Artikel unserer Gastarbeiter*innen

«Was jetzt als Schlagzeile diskutiert wird, hätte mich vor 80 Jahren umgebracht»

In der «Sternstunde Philosophie» verglich Schriftsteller Adolf Muschg Cancel Culture mit Auschwitz. Anna Rosenwasser über die Problematik des Vergleichs.

Södeli­ko­mödeli. Jetzt hat es also ein Intel­lek­tu­eller für intel­lek­tuell gehalten, öffentlich einen Holocaust-Vergleich zu machen. Adolf Muschg, 86-jähriger Schrift­steller, hat am Sonntag im Schweizer Fernsehen seine Lebens­weis­heiten zum Besten gegeben. Also wortwörtlich, es ging in der Sendung «Stern­stunde Philo­sophie» um seine Lebens­weis­heiten. Und weil Journalist*innen genauso wie das Schweizer Boomer-Publikum besessen sind von der Frage, warum plötzlich rassi­stische Aussagen im öffent­lichen Raum nicht mehr okay sind, kamen die Herren aufs Thema Cancel Culture – ein Begriff, der von eher von Mitte-Rechts kommt, und das Phänomen beschreibt, dass Personen aufgrund diskri­mi­nie­render Aussagen öffentlich kriti­siert werden und in der Konse­quenz gar profes­sio­nelle Aufträge verlieren können. 

Als Stern­stunde-Moderator Yves Bossart seinen promi­nenten Gast fragt, ob unserer heutigen Gesell­schaft der Sinn für Wider­sprüche fehle, antwortete Muschg:

«Die Cancelling Culture, die wir heute haben, dass man also bei bestimmten Zeichen, die man setzt, von sich gibt, abgeschrieben wird: Da bist du draussen aus der Gemein­schaft der Zivili­sierten. Das ist [so] bei femini­sti­schen Diskursen, bei rassi­sti­schen Diskursen und so weiter. Ein falsches Wort und du hast den Stempel. Das ist im Grunde eine Form von Auschwitz. Man stempelt Leute ab, und von da an kommen sie als Gesprächs­partner nicht infrage. Was ich an dieser Praxis entsetzlich finde, ist nicht einmal das Inhumane. Sondern es ist das Inter­es­selose an eigenen Wider­sprüchen. Das ist doch der ganze Spass des Lebens, dass ich mich dabei ertappen lerne, dass ich mitein­ander völlig unver­einbare Dinge, die man mir in der Sonntags­schule beigebracht hat, […] dass diese Wider­sprüche […] zusam­men­gehen […]. Ich sollte den Teufel tun und diese Wider­sprüche zemen­tieren, wie wir das heute tun. Diese schreck­lichen Verein­fa­chungen! Dahinter ist immer ein redlicher Impuls: Man will Leute disqua­li­fi­zieren, die Schwarze disqua­li­fi­zieren. Das ist sehr ehrenwert. Aber diese Disqua­li­fi­kation gerät genau ins gleiche faschi­stoide Fahrwasser des Ausschliessens der anderen. Nur sind es jetzt andere andere.»

AAHHHHHSDKJFGHADJLKF.

Okay. Okay okay okay. Ich nehm jetzt den Finger von der Caps-Lock-Taste, um Adolf Muschg und allen anderen Intel­lek­tu­ellen zu erklären, bei welchen Phäno­menen ein Vergleich mit Auschwitz angebracht ist. Anbei meine vollständige Liste:

– Auschwitz.

Cool. Bin froh, haben wir das geklärt. 

Adolf Muschg findet das übrigens nicht, er hat am Tag nach der Sendung in Inter­views gesagt, er nehme seine Aussage nicht zurück. «Das Wort Auschwitz ist ein Reizwort.»

You don’t say? Wer hätte gedacht, dass der Name eines Konzen­tra­ti­ons­lagers, in dem über eine Million Leute umgebracht wurden, ein Reizwort wäre. Faszinierend.

«…als müssten wir uns darüber streiten, ob Völkermord ein angebrachter Vergleich für irgend­etwas wäre.»

Wir haben also ein paar Schlag­zeilen darüber, dass ein Schrift­steller im natio­nalen Fernsehen einen Holocaust-Vergleich gemacht hat. Man nennt den Vergleich «umstritten», als müssten wir uns darüber streiten, ob Völkermord ein angebrachter Vergleich für irgendwas wäre. Und natürlich heisst es jetzt, man müsste das Interview als Ganzes zur Kenntnis nehmen, dürfe nicht nur eine Passage rauspicken. Warum? Weil der Vergleich zwischen Auschwitz und Cancel Culture angebrachter wird, wenn man die anderen 57 Minuten lang den Lebens­weis­heiten von Muschg zuhört?

Alte weisse Männer werfen der «Cancel Culture» gern vor, man ignoriere bewusst den Kontext einer Aussage. Das ist ironisch, denn der Kontext von Muschgs Auschwitz-Vergleich bestätigt nur, wie proble­ma­tisch seine Ansichten sind. «Das ist doch der ganze Spass, dass ich mich ertappen lerne?» Kolleg, du bist 86 Jahre alt! Du hattest ein Dreiviertel-Jahrhundert Zeit, dich zu ertappen!

Zu lernen, nicht scheisse zu sein, ist kein Spass. Es ist eine Verpflichtung als Mensch. Es ist eine Grund­an­for­derung. Basic human decency. Bei den Themen Rassismus und Sexismus damit zu kommen, dass Wider­sprüche-Aufdecken ein Spass sei, ist ein lachhaftes Privileg. Cool, Adolf, dass dir antiras­si­stische Diskurse Spass machen, weil du gern wider­sprüchlich bist, während dir unsere Nation dabei zuhört.

«Was jetzt in einer Schlag­zeile disku­tiert wird, hätte mich vor 80 Jahren umgebracht.»

Was für diesen weissen, christ­lichen Intel­lek­tu­ellen «unver­einbare Dinge» sind, die man nicht «zemen­tieren» sollte, weil das eine «Verein­fa­chung» wäre, ist für andere Menschen ein Teil ihrer Würde. Wenn die Vernichtung meiner Vorfahren mit Cancel Culture verglichen wird, der Moderator in der Sendung kein Wort dazu verliert und danach disku­tiert wird, ob das easy ist oder nicht, dann habe ich nicht die Wahl, ob das Entdecken dieser «Unver­ein­barkeit» der «Spass des Lebens» ist. Das, was jetzt in einer Schlag­zeile disku­tiert wird, hätte mich vor 80 Jahren umgebracht.

Im Interview zitieren der Moderator und der Schrift­steller heiter andere Intel­lek­tuelle. Herr Muschg wüsste also von Berufes wegen, wie es ginge, antiras­si­stische Diskurse zu verfolgen, zu verin­ner­lichen und in einer Sendung wie dieser zu referen­zieren. Es ist eine bewusste Entscheidung, das nicht zu tun, die eigenen Privi­legien nicht anzuer­kennen, in der eigenen Position zu verharren, einer Position die «Cancel Culture» als «faschi­stoid» sieht, weil es Leute gibt, die keinen Bock mehr darauf haben, dass rassi­stische und sexistische Äusse­rungen weiter okay sind. (Übrigens wünschte ich manchmal, die von alten weissen Männern so oft zitierte Cancel Culture wäre real. Denn, wenn sie es wäre, würden dann noch Verge­wal­tiger und Rassisten zu den mächtigsten Entschei­dungs­trägern der Welt gehören?)

Auschwitz ist kein Vergleich. Diskri­mi­nierung konse­quent zu bekämpfen ist nicht faschi­stoid. Und dass ein alter, weisser Herr öffentlich einfach darüber plaudert, wie «ehrenwert», aber eben unschlau er es findet, Rassismus radikal zu disqua­li­fi­zieren – und dafür Schwarze Menschen als Beispiel nimmt –, und dann weiterhin als schlauer Intel­lek­tu­eller gilt, sagt alles über den Schweizer Rassismus-Diskurs aus, was wir wissen müssen. Und auch darüber, ob die «Cancel Culture» tatsächlich existiert.

 

  1. Sehr wichtig, was hier zur Sprache gebracht wird. Meine Generation duckte sich zuviel. Das merkte man damals nicht.

  2. Thomas Wehrli

    Die grösste Verharm­losung von Auschwitz ist die: Zu behaupten, dass das Ereignis einmalig sei. Dann nämlich ist es das längst vergangene Verbrechen einer demnächst vollständig ausge­stor­benen Generation. Wir können dann noch ein bisschen mit dem Finger auf die damalige Generation zeigen und uns überlegen fühlen, dass uns das gewiss nicht passiert. Aber letztlich nimmt das Verbot von Auschwitz-Vergleichen dem Ereignis jede Relevanz und es geht unwei­gerlich in Vergessenheit.
    Das prinzi­pielle Verbot von Auschwitz-Vergleichen tut also genau das Gegenteil von dem, was es vorgibt zu tun: Es verharmlost Auschwitz. Die Mecha­nismen, die zu Auschwitz geführt haben, gibt es auch heute noch. Und ja, Cancel Culture ist eine der Auswüchse davon. Adolf Muschg hat völlig recht: Es ist wichtig, Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Tuns zu haben. Alles andere führt zu einer Selbst­ge­rech­tigkeit, in der man zwar auch z. B. das weltweit erste Tierschutz­gesetz einführt, weil man auch die Tiere behandle, wie sie es verdienen. Man baut in dieser Selbst­ge­rech­tigkeit zwar Autobahnen und schafft unmit­telbar viele Jobs. Aber man vergisst dabei die eigene Selbst­ge­rech­tigkeit und geht über Leichen, weil man als “die Guten” sein Tun gar nicht weiter prüfen muss. Dieser Mecha­nismus ist heute aktueller denn je. Und Muschgs Verweis darauf ist wichtig.

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