Artikel unserer Gastarbeiter*innen Artikel unserer Gastarbeiter*innen Mobile

Das Verhüllungsverbot – Bühne frei für Selbstinszenierungen!

Die Diskussion um das Verhüllungsverbot macht antimuslimische Rassismen sichtbar. Diese sind Teil unserer gesellschaftlichen Selbstinszenierung. Ein Beitrag unseres Gastarbeiters Timo.

Ich beginne diesen Text zwar mit der Initiative zum Verhül­lungs­verbot, hoffe jedoch an einem anderen Ort zu enden. An einem Ort wo klar ist, dass es eine Verän­derung in unseren gesell­schafts­po­li­ti­schen Struk­turen braucht, sowie eine Ausein­an­der­setzung mit der eigenen Verstrickung in den antimus­li­mi­schen Rassismen. Jenen Struk­turen, von denen Menschen, die gesell­schaftlich ähnlich privi­le­giert situiert sind wie ich, eigentlich profitieren.

Es braucht eine langfri­stige und nachhaltige Ausein­an­der­setzung mit der eigenen Position in diesen Strukturen.

Denn wir alle sind in diese Struk­turen einge­bunden und gleich­zeitig repro­du­zieren wir diese. Da sie so fest in unserem Alltag und unseren Insti­tu­tionen verankert sind, ist es beinahe unmöglich, nicht davon zu profi­tieren. Wählen gehen und gegen ein Verhül­lungs­verbot zu Stimmen ist essen­tiell, damit antimus­li­mi­scher Rassismus nicht noch stärker insti­tu­tio­na­li­siert wird. Aber um wirklich etwas in den Struk­turen zu verändern, braucht es eine langfri­stige und nachhaltige Ausein­an­der­setzung mit der eigene Position in diesen Struk­turen und den damit verknüpften Privilegien.

Worum es wirklich geht: Selbstinszenierung

So schreibe ich diesen Text aus einer Perspektive, die mehrfach privi­le­giert ist, und weder von der Initiative zum Verhül­lungs­verbot, noch von dem damit einher­ge­henden antimus­li­mi­schen Rassismus betroffen ist. Mit meiner begrenzten Perspektive als weisser, konfes­si­ons­loser Mann mit Stimm- und Wahlpri­vi­legien kann und will ich für keine betroffene Person reden. Aus dieser Aussen­per­spektive heraus versuche ich deswegen den Fokus darauf zu richten, worum es aus meiner Sicht in dieser Initiative wirklich geht: die Selbst­in­sze­nie­rungen verschie­dener Menschen aus der weissen Schweizer Mehrheits­ge­sell­schaft, die sich als westlich und deswegen fortschrittlich versteht. Es ist diese weisse Mehrheits­ge­sell­schaft, die wie so oft versucht, ihre eigenen Perspek­tiven als neutral und allge­mein­gültig zu verklären, um so unsichtbar zu machen, auf welch vielfältige Weise sie davon profitiert.

Die erste Selbst­in­sze­nierung, in der alle anderen einge­bettet sind, ist jene der Schweiz als Hüterin der Zivili­sation, die sich als Teil der westlich-europäi­schen Gesell­schaft als Retterin aller Unter­drückten insze­niert. In diese Insze­nierung einge­schlossen sind alle – seien es rechte Parteien, linke weisse Femin­stinnen oder die «neutrale» Mitte der Gesell­schaft. Diese Selbst­in­sze­nierung lässt sich durch einen Satz der postko­lo­nialen Theore­ti­ke­rinnen Gayatri Spivak und Meral Kaya beschrieben:

«Weisse Männer und Frauen retten nicht-weisse Frauen vor nicht-weissen Männern.»

Was ist damit gemeint?

Zunächst ist einmal von weissen Männern und Frauen die Rede. Damit sind alle weissen Menschen gemeint, die sich eine bestimmte Geschichte von sich selbst und der westlichen Gesell­schaft erzählen. Diese in einem kolonialen und natio­nalen Kontext entstandene Geschichte oder Fantasie, welche durch struk­tu­relle, wirtschaft­liche und kultu­relle Macht aufrecht­erhalten wird, äussert sich etwa so: Es gibt ein «Wir». «Wir Schweizer*innen» sind fortschrittlich, zivili­siert, aktiv handelnd, frei, gleich­be­rechtigt, gerecht, weiss und (am wichtigsten) anderen Menschen überlegen. «Wir» haben ganz alleine, aus eigener Kraft, eine Gesell­schaft, Wohlstand sowie eine Kultur aufgebaut, eine Kultur, die in allen Bereichen das Mass der Dinge ist, die seines­gleichen sucht und die «wir» vertei­digen und beschützen müssen. Die ganze Welt soll sich an unserem «Wir» orien­tieren, sich ihm anpassen und versuchen, so zu werden wie «wir». Natürlich wird die Welt es nie schaffen, da «wir» einfach besser sind.

Die Anderen

Als nächstes kommen die nicht-weissen Frauen auf die Bühne. Diese sind Teil der oben erzählten kolonialen Fanta­sie­ge­schichte, in welcher es nebst dem «Wir» auch ein «sie», die Anderen, geben muss. Ohne «die Anderen» funktio­niert das Schau­spiel nicht. Dabei gibt es zwei verschiedene Rollen in der Besetzung «des Anderen». Die erste ist jene des Opfers – in unserem Beispiel die musli­mische Frau. Wichtig zu betonen ist, dass es sich hier nicht um irgendeine reale musli­mische Frau handelt, sondern um eine Projektion dieser, also eine Fantasie der weissen Männer und Frauen. Diese musli­mische Frau wird homoge­ni­siert – es gibt die musli­mische Frau – und ihre einzige Chance zur Emanzi­pation liegt im westlich-modernen Ideal der Emanzi­pation. Der musli­mi­schen Fantasie-Frau wird jegliche Handlungs­macht abgesprochen. Sie ist hilflos in ihrem Schicksal und ihrer Unter­drückung gefangen, und jegliche Form von Verhüllung ist ein Symbol dieser Unter­drückung. Um als emanzi­piert zu gelten, muss sie ihre Verhüllung ablegen und Lohnarbeit verrichten. Selbst­redend sind ihr nur gewisse Arbeiten erlaubt, denn sonst würden die materi­ellen Privi­legien der Geschichte wegfallen.

Ohne «die Anderen» funktio­niert das Schau­spiel nicht.

Die zweite Rolle «der Anderen» wird in dieser Insze­nierung vom Täter, dem nicht-weissen Mann, besetzt. Der Täter ist in unserem Beispiel der Islam als anscheinend patri­ar­chale Religion, perso­ni­fi­ziert durch den musli­mi­schen Mann. Selbst­ver­ständlich handelt es sich auch hier nicht um irgendeine Realität, sondern wiederum um die kolonialen Fantasien und Zuschrei­bungen von weissen Schweizer*innen. Der musli­mische Mann als fanati­scher Anhänger der patri­ar­chalen und frauen­ver­ach­tenden Religion des Islams unter­drückt die musli­mische Frau und hasst die westliche Zivili­sation. Vor ihm müssen wir die musli­mische Frau retten und damit unsere gesell­schaft­lichen Werte verteidigen.

Nehmen wir nun alles zusammen, dann bedeutet dies: Weisse Schweizer*innen müssen ihre gesell­schaft­lichen Werte, die das Beste der modernen Zivili­sation darstellen (wobei die «moderne Zivili­sation von ihnen selbst definiert wird), sowie die hilflose musli­mische Frau vor dem bösen Islam und die Unter­drückung durch den musli­mi­schen Mannes beschützen. Das Verbot des Niqabs als angeb­liches Symbol dieser Religion und ihrer Unter­drückung ist dabei ein wichtiger und notwen­diger Schritt, um dieses Ziel zu erreichen.

Die Bühne der Selbstinszenierung

Mithilfe des antimus­li­mi­schen Rassismus und dem oben beschrie­benen kolonialen Narrativ bauen sich also weisse Schweizer*innen aus der Mehrheits­ge­sell­schaft eine Bühne, auf der sie sich selbst in Abgrenzung zu «den Anderen» erhöhen und sich ihrer Rolle als Retter*innen und Hüter*innen der Menschen­rechte mit Hingabe widmen können. Dank geschichtlich gewach­senen rassi­sti­schen Gesell­schafts­struk­turen, auf Ausbeutung und Gewalt basie­rendem Wohlstand, und ihren weissen Privi­legien, können sie es sich erlauben, diese Bühne mit der Realität zu verwechseln. Diese koloniale Bühne bietet dabei die Plattform, also quasi die Infra­struktur, auf der mehrere Selbst­in­sze­nie­rungs­stücke aufge­führt werden.

Die Schweiz wird als Land der Geschlech­ter­gleichheit dargestellt.

Rechte Parteien, weisse Femini­stinnen und ein grosser Teil der Mehrheits­ge­sell­schaft können dank dieser Initiative sich selbst und die Schweiz als ein Land der Geschlech­ter­ge­rech­tigkeit darstellen. Genau dies war beispiels­weise die Haupt­ar­gu­men­tation der SVP im Rahmen des Frauen­streiks. Damit können sie sich aus der Verant­wortung nehmen, die Geschlech­te­run­ge­rech­tigkeit in der Schweiz zu bekämpfen. Hinzu kommt, dass durch Initia­tiven wie das Verhül­lungs­verbot ein «böser Anderer» ins kollektive Bewusstsein verankert wird, womit rechte Parteien (leider erfolg­reich) auch striktere Immigra­ti­ons­ge­setze gegenüber Migrant*innen durch­zu­setzen versuchen.

Die weissen Feministinnen

Weiter gibt die Initiative einer bestimmten Art von weissen Femini­stinnen eine Bühne, auf der sie sich und ihre Vorstellung von Emanzi­pation, die Ausdruck einer höchst­spe­zi­fi­schen und privi­le­gierten gesell­schaft­lichen Position ist, als die allge­mein­gültige und universell Geltende insze­nieren können. Der Position der weissen Femini­stinnen zufolge ist eine Frau erst frei, wenn sie unver­hüllt ist – ob sie das selbst so möchte und sich aus vielfäl­tigen Gründen selbst dazu entschieden hat, ist neben­sächlich. Der zweite Faktor, welcher der musli­mi­schen Frau die westliche Zivili­sation näher­bringen soll, ist die Verrichtung von Lohnarbeit.

Weniger wichtig ist vielen weissen Feminist*innen, dass Migrant*innen und vor allem FoC (Frauen of Color) struk­tu­rellem und insti­tu­tio­nellem Rassismus ausge­setzt sind und mit riesigen Hürden auf dem Arbeits­markt zu kämpfen haben. Unwichtig scheint oft auch die Tatsache, dass die legal oder illega­li­siert auf dem Arbeits­markt ermög­lichten Arbeiten genau jene sind, welche die weissen Femini­stinnen selbst nicht mehr verrichten möchten – namentlich Care Arbeit wie Haus- und Pflege­ar­beiten; Arbeiten, die trotz ihrer immensen Wichtigkeit für die Gesell­schaft massiv unter­be­zahlt sind, und die immer mehr zur «Frauen­arbeit» gemacht werden. Es ist nicht mehr die weisse bürger­liche Frau, die diese Arbeit verrichtet, sondern «die migran­tische Frau». Diese unattrak­tiven Arbeiten werden «den anderen Frauen» zugeteilt, und die Femini­stinnen können ihre weissen Privi­legien behalten.

Sind weisse Femini­stinnen Teil der Mächtigen im Schau­spiel der Selbstinszenierung?

Mir selbst, aber auch vielen FoC, drängen sich deswegen folgende Fragen auf: Handelt es sich hier wirklich um die Befreiung und Emanzi­pation der Frau? Oder um die Bühnen­me­tapher wieder­auf­zu­greifen: Werden weisse Femini­stinnen nicht auch einfach als Teil der Mächtigen im Schau­spiel der Selbst­in­sze­nie­rungen auf die Bühne verpflanzt, um selbst auf Kosten von migran­ti­schen Frauen von den struk­tu­rellen, wirtschaft­lichen etc. Privi­legien zu profi­tieren?  Ohne dabei die Infra­struktur der Bühne, unter der sie selbst so lange gelitten haben und immer noch leiden, zu verändern, sondern sie sogar noch weiter auszu­bauen? Fragen wie diese unter­streichen die Notwen­digkeit einer kriti­schen Reflektion von weissen femini­sti­schen Positionen, wobei die Berück­sich­tigung eines inter­sek­tio­nalen Ansatzes ein wichtiger erster Schritt dazu wäre.

«Die Guten» und deren Abgrenzung

Zuletzt möchte ich noch jene Form der Selbst­in­sze­nierung erwähnen, die von Menschen ausgeht, die gegen die Initiative stimmen. Also quasi jene, die sich als die Guten auf der Bühne sehen und allzu schnell vergessen, dass sie selbst noch immer auf der Bühne stehen. Versteht mich hier bitte nicht falsch, ich bin mir der immensen Wichtigkeit dieser Gegen­stimmen bewusst, die hoffentlich zur Ablehnung der Initiative führen werden.

Dies ist essen­tiell und dies möchte ich in keiner Art und Weise in Frage stellen. Jedoch ist es wichtig zu betonen, dass alle Menschen in der Diskussion eine bestimmte Position innehaben und sich mit dieser ausein­an­der­setzen müssen; dies zeigt sich bereits bei der Frage darüber, wer in der Diskussion überhaupt sichtbar gemacht wird. Sprich, wenn ich mich als weisse Person gegen diese Initiative richte, wie mit diesem Text, dann ist es aus meiner Sicht essen­tiell, dass ich mich grund­sätzlich mit meinen eigenen Rassismen ausein­an­der­setze und mir immer wieder die Frage stelle: Welche Struk­turen und Macht­ver­hält­nisse repro­du­ziere ich, und wie nutze ich selbst die damit verbun­denen Privi­legien? In diesem Rahmen gilt es auch zu zeigen, wer das kritische Wissen erarbeitet hat, das hier von mir vorge­bracht wird, um zu verhindern, dass es unsichtbar gemacht wird.

Eine Abgrenzung gegenüber rechts­po­pu­li­sti­schen Parteien, den Initiant*innen und Befürworter*innen ist wichtig, doch wenn diese als «die Bösen» verstanden werden und als Ausrede dienen, sich nicht mit sich selbst und der eigenen Position ausein­an­der­zu­setzen, da mensch sich selbst zu «den Guten» zählt, dann ist dies proble­ma­tisch. Mit dieser Haltung positio­niert sich die weisse Person wieder ausserhalb rassi­sti­scher Struk­turen und ignoriert so die eigenen Verstrickungen und Beiträge zu deren Aufrecht­erhaltung. Sobald die nächste Initiative in diese Richtung kommt, herrscht bei «den Guten» wieder viel Empörung; «Unglaublich, dass es immer noch Menschen gibt, die nicht verstanden haben, dass es nur mitein­ander geht».

Die oberfläch­liche Ausein­an­der­setzung mit Rassismus, weil es gerade trendy ist, gilt es zu verhindern.

Aber anschliessend vergessen «die Guten» in einer Mischung aus Gutmenschsein, Social Media-Aktivismus, entspan­nenden Yogakursen und weiteren Privi­legien, dass sie noch immer auf der Bühne stehen, so dass sich das Ganze Schau­spiel in einer Endlos­schlaufe wiederholt. Fatima El Tayeb beschreibt in ihrem Buch «Undeutsch», dass der oder die weisse Mehrheits­deutsche alle paar Jahre wieder­ent­deckt, dass es Rassismus in Deutschland gibt; in der Schweiz ist es nicht anders. Diese oberfläch­liche Ausein­an­der­setzung mit Rassismus, weil es gerade trendy ist, gilt es zu verhindern, wenn man tatsäch­liche struk­tu­relle Verän­de­rungen erreichen will.

Weg von der Bühne der Selbstinszenierung

Zum Schluss des Textes möchte ich meinen Blick von der Bühne der Selbst­in­sze­nie­rungen abwenden und vielen anderen Orten zuwenden. Jenen Orten, Menschen und Kollek­tiven (baba news, Bla*sh, les foulards violets etc.), welche die von mir skizzierten Überle­gungen und Diskus­sionen schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, beschreiben und aktivi­stisch in Reali­täten umsetzen. Jenen Orten, wo FoC das kritische Wissen zu diesem Text erarbeiten, leben und in genialen Beiträgen verschrift­lichen. Erst wenn sich unsere Aufmerk­samkeit und unsere Energie von der Bühne der Selbst­in­sze­nie­rungen weg zu diesen Orten des Wissens verschiebt, können die struk­tu­rellen Verän­de­rungen entstehen, welche wir brauchen und wollen.

Von Timo Righetti

  1. Hammer Artikel!!!!!!!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert