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Kommentar — Ein Hoch auf die Pro-Palästina-Proteste an Schweizer Universitäten

Die jüngsten Pro-Palästina-Besetzungen an den Universitäten lösten in der Schweiz hitzige Diskussionen aus. Wie sich unsere Medien in deren Berichterstattung irren und weshalb es solche Proteste braucht.


Von Tristan Gross (Pseudonym)

Die abwer­tende Darstellung von Pro-Palästina-Protesten als antise­mi­tische und links­extreme Veran­stal­tungen ist nicht nur abstossend, sondern faktisch inkorrekt. Einen Waffen­still­stand zu fordern, ist keine politisch oder religiös motivierte, sondern eine humanitäre Angele­genheit. Sie zielt darauf hin, weitere unschuldige Zivilist*innen vor ihrem Tod zu bewahren.

Wer sich an einer dieser Demon­stra­tionen ein Bild vor Ort gemacht hat, weiss auch um die Vielfältigkeit unter den Teilneh­menden: Studenten, Senio­rinnen, Familien mit Kindern, sowohl Schweizer als auch Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, Musli­minnen, Juden. Die Proteste sind bisher stets friedlich geblieben, und jegliche Art von Diskri­mi­nierung, insbe­sondere Antise­mi­tismus, wird nicht geduldet.

Ein Slogan ist bedeu­tender als die Realität

Dennoch werden die Demon­strie­renden von den Medien syste­ma­tisch diskre­di­tiert. So auch die Studie­renden, die in den vergan­genen Tagen an den Universitäten in Lausanne, Zürich, Bern und weiteren Städten aktiv wurden. Ihnen wird vorge­worfen, pauscha­li­sierte Begriffe wie «Genozid» oder «Apartheid» zu skandieren und antise­mi­tische Parolen zu verbreiten, die Israel das Existenz­recht absprechen.

Zeitgleich schweigt man über die gegen­wärtige und seit Jahrzehnten anhal­tende Realität, in der Israel selbst die Existenz der Palästinenser*innen verneint und zerschlägt.

Mit letzterem ist insbe­sondere der Protestruf «From the river to the sea, Palestine will be free» gemeint. Dieser hat, anders als dessen monotone mediale Zuordnung, mehrere Bedeu­tungen. Eine gängige Inter­pre­tation, welcher in der Schweiz kaum Aufmerk­samkeit gewidmet wird, ist jene, die Gerech­tigkeit und Gleich­be­rech­tigung für alle Palästinenserinnen und Palästinenser fordert, die im histo­ri­schen Palästina zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan leben. Diese Forderung zielt nicht auf die Auslöschung Israels ab, sondern auf die Rechte des palästinensischen Volkes.

Dennoch empören sich die Schweizer Medien über einen jahrzehn­te­alten Slogan, der in gewissen Inter­pre­ta­tionen Israel das Existenz­recht abspricht. Zeitgleich schweigt man über die gegenwärtige und seit Jahrzehnten anhal­tenden Realität, in der Israel selbst die Existenz der Palästinenser*innen verneint und zerschlägt.

Pauscha­li­sie­rende Bezich­tigung der Pauschalisierung

Im Januar entschied der Inter­na­tionale Gerichtshof, es sei «plausibel», dass Israel in Gaza einen Genozid begehe. Der Apart­heid­vorwurf stützt sich auf Befunde von anerkannten Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen, unter anderem B’Tselem, der wohl bekann­testen israe­li­schen Menschenrechtsorganisation.

Das sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass diese Begriffe – ob nun zutreffend oder nicht – alles andere als frei erfunden sind. Es soll zumindest möglich sein, diese Anschul­di­gungen in den Raum zu stellen und einen öffentlichen Diskurs darüber zu führen, ohne gleich als «Israel-Hasser» oder Ähnliches abgestempelt zu werden, ohne in pauscha­li­sierter Art und Weise der Pauscha­li­sierung bezichtigt zu werden.

Dasselbe gilt für die Forde­rungen an die Universitäten, die von den Studie­renden gestellt werden. Anstelle den akade­mi­schen Boykott von israe­li­schen Insti­tu­tionen umgehend mit der Entfernung jüdischer Wissen­schaftler während den Zeiten des Natio­nal­so­zia­lismus zu vergleichen, könnten Medien ihn dem akade­mi­schen Boykott Südafrikas ab den 1960er-Jahren gegenüberstellen, der gewöhnlich als positiv wahrge­nommen wird.

Anstelle eine Stellung­nahme von Universitäten gegenüber Israels Krieg in Gaza sofort abzulehnen, weil Hochschulen ja unabhängig von der Politik sein sollten, wäre ein Vergleich mit der Verur­teilung der russi­schen Invasion in die Ukraine möglich, welche die Schweizer Universitäten im März 2022 kritiklos übernahmen.

Proteste bringen unbequeme Thema­tiken an die Öffentlichkeit

Ein solcher Diskurs findet in den Schweizer Medien jedoch wenig bis gar nicht statt. Statt­dessen werden Parolen, Begriffe und Forde­rungen umgehend und ohne eine grosse inhalt­liche Ausein­an­der­setzung katego­ri­siert und diskre­di­tiert. Sowohl die syste­ma­tische Unterdrückung als auch das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung – der eigent­liche Kern dieser Aussagen – büssen an Gewicht ein. Wir befinden uns inzwi­schen in einem Paradox, in welchem den Protesten mehr (negative) Bericht­erstattung gewidmet wird, als der Situation in Gaza, auf welche die Demon­strie­renden aufmerksam machen wollen.

Die Abwesenheit dieses Diskurses befeuert die Demon­strie­renden umso mehr. Und die Abwesenheit ist auch der Grund, weshalb die Proteste so wichtig sind: Mit ihren angeblich «radikalen» Aussagen bringen sie unbequeme Thema­tiken an die Öffentlichkeit, denen sonst die Reise von Palästina in die Schweiz verwehrt würde.

  1. Semir Selimi

    Das hängt mit der Stigma­ti­sierung von Arabern im Allge­meinen sowie der Religion des Islam und Muslimen zusammen. Heutzutage kann man offen islamophob sein, ohne juristische Konse­quenzen befürchten zu müssen.

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