Der Berner Stadtrat hat eine Motion angenommen, die Massnahmen gegen Antisemitismus an Schulen fordert. Die Idee dahinter ist zu begrüssen – doch das Einstiegsvotum der Motionärin Debora Alder-Gasser (EVP) wirft Fragen auf. Sie stellt Antisemitismus über andere Rassismusformen. Das ist problematisch.
Die Motion «Bekämpfung von Antisemitismus – insbesondere an Berner Schulen» forderte den Gemeinderat dazu auf, eine Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus, insbesondere an Berner Schulen, vorzulegen und eine*n Antisemitismusbeauftragte*n zu ernennen bzw. eine Antisemitismusanlaufstelle zu schaffen.
Der Gemeinderat der Stadt Bern antwortete auf die Motion, dass er Rassismus, und damit auch Antisemitismus, in jeglicher Form ernst nehme. Die Stadt könne aber keine Projekte zu einzelnen, spezifischen Rassismusformen umsetzen, dazu fehlten die finanziellen Mittel. Da Antisemitismus eine spezifische Form des Rassismus darstelle, sei die Schaffung einer separaten Fachstelle oder beauftragten Person nicht zielführend. Der Gemeinderat lehnte deshalb die Schaffung einer Anlaufstelle oder beauftragten Person betreffend Antisemitismus ab.
In der Stadtratssitzung vom 20. März wurde die Motion diskutiert. In der Debatte äusserte sich auch Debora Alder-Gasser von der EVP; sie hatte die Motion mit eingereicht. Ihr Votum enthielt viele Ungenauigkeiten und hinterlässt einen faden Beigeschmack.
Antisemitismus als Unterkategorie von Rassismus
So stellte sie zunächst fest, dass Antisemitismus keine Form von Rassismus sei. Ihrer Argumentation zufolge würde es grosse Unterschiede zwischen den beiden Phänomenen geben, weshalb Antisemitismus und Rassismus nicht gleich behandelt werden könnten. So sei Antisemitismus im Unterschied zu Rassismus «immer eliminatorisch motiviert».
Ihre Aussagen stehen im krassen Gegensatz zur offiziellen Haltung des Bundes; so schreibt die Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) explizit: «Die Schweiz ordnet Antisemitismus dem Gesamtphänomen des Rassismus zu». Das ist auch der aktuelle weltweite Forschungsstand; so definiert die Europäische Grundrechteagentur (FRA) Antisemitismus als eine spezifische Form von Rassismus und Intoleranz gegenüber Jüdinnen und Juden.
«Die Schweiz ordnet Antisemitismus dem Gesamtphänomen des Rassismus zu.»
Und selbst in Deutschland, wo dem Antisemitismus historisch bedingt lange Zeit eine Sonderstellung zugesprochen wurde, hat sich in den vergangenen 15 Jahren der Diskurs durchgesetzt, dass Antisemitismus eine Unterkategorie von Rassismus darstellt. Der Soziologe und Antisemitismusforscher Werner Bergmann hält z.B. fest: «Es gibt keinen analytischen oder historischen Grund, Antisemitismus vom Rassismusbegriff abzukoppeln. Eine solche Trennung vernebelt die strukturellen Parallelen und verhindert eine umfassende Rassismuskritik.»
Auch Debora Alder-Gassers Aussage, dass Antisemitismus immer eliminatorisch (also auf Vernichtung ausgerichtet) sei, ist schlichtweg falsch. Der eliminatorische Antisemitismus ist eine extreme Ausprägung, aber die eliminatorische Motivation ist kein Definitionsmerkmal für Antisemitismus. Antisemitismus reicht von subtilen Zuschreibungen über soziale Ausgrenzung und ökonomische Stereotype bis hin zu offener Gewalt – nicht jede Form zielt auf Vernichtung.
Weiter bemängelt Debora Alder-Gasser in der Debatte, dass die Bekämpfung von Antisemitismus im Bereich Migration und Integration angesiedelt sei. Viele jüdische Personen hätten zwar einen Migrationshintergrund, aber nicht alle, und viele würden seit Generationen in der Schweiz leben. Das mag zwar sein, lenkt aber vom Wesentlichen ab. Denn die zuständige Fachstelle richtet sich längst nicht nur an Menschen mit Migrationsgeschichte. Sie ist Anlaufstelle für alle, die Rassismus erleben – egal, woher sie kommen, wie lange sie hier leben oder welchem Glauben sie angehören.
Gefährliche Sonderstellung
Auch wenn Debora Alder-Gasser immer wieder versucht, die Unterschiede zwischen Antisemitismus und anderen Rassismusformen hervorzuheben, wiegen die strukturellen Gemeinsamkeiten deutlich schwerer. Wer hier eine Sonderlösung für Antisemitismus fordert, handelt kontraproduktiv – indem er den institutionellen Rahmen verkennt und die Betroffenen unnötig ins Abseits stellt. Darüber hinaus wäre eine Ungleichbehandlung von Antisemitismus gegenüber Betroffenen anderer Rassismusformen nur schwer zu vermitteln.
Bevor sie auf die einzelnen Punkte der Motion eingeht, betont Debora Alder-Gasser abschliessend, dass es «hier für einmal nur um Antisemitismus» ginge. Es gehe ja sonst nie ausschliesslich um Antisemitismus, denn wie die Antwort des Gemeinderats zeige, müsse immer jede Form von Rassismus mitgenannt werden. Und sie sagt weiter: «Die Relativierungen, die so oft passieren, sind extrem schädlich.»
Sie baut damit implizit eine Hierarchie auf, in der Antisemitismus schwerer wiegt als andere Formen gruppenbezogener Diskriminierung. Das ist nicht nur falsch – es ist gefährlich.
Damit findet etwas einen Höhepunkt, was in der ganzen Rede bereits mitschwingt: Wer Antisemitismus als Teil des Rassismus darstellt, relativiert Antisemitismus. Offenbar ist Antisemitismus in ihren Augen gravierender als Rassismus – sonst würde er nicht relativiert werden. Debora Alder-Gasser baut damit implizit eine Hierarchie auf, in der Antisemitismus schwerer wiegt als andere Formen gruppenbezogener Diskriminierung. Das ist nicht nur falsch – es ist gefährlich.
Derartige Aussagen vergiften das Klima, in dem wir eigentlich gemeinsam gegen Diskriminierung kämpfen sollten. Sie stellen Opfer gegeneinander aus, anstatt sie zu vereinen. Und sie machen aus Antisemitismus – einem realen, dringlichen Problem – ein politisches Instrument der Abgrenzung.
Rassismusformen in der Berichterstattung
Auch der Vorwurf, es ginge nie ausschliesslich um Antisemitismus, ist so nicht haltbar. Wenn man sich die Medienberichterstattung bezüglich Antisemitismus im Vergleich zum antimuslimischen Rassismus anschaut (beide haben seit dem 7. Oktober 2023 eine starke Zunahme erfahren), sieht man, dass über Antisemitismus deutlich häufiger berichtet wird.
So wurde die Attacke einer IV-Rentnerin auf eine Zürcher Muslimin im August 2024 kaum in der breiten Berichterstattung aufgenommen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Tagesanzeiger in der Berichterstattung zur Studie zum antimuslimischen Rassismus festhält, dass sich seit dem 7. Oktober auch der Antisemitismus nochmals deutlich verschärft hat – obwohl es in der Studie nicht um Antisemitismus ging.
Grundsätzlich ist es durchaus zu begrüssen, wenn Antisemitismus und andere Arten von Rassismus nicht isoliert betrachtet werden. Ein intersektioneller Ansatz ist in diesem Zusammenhang wichtig und die Betonung von Debora Alder-Gasser, es soll einmal «nur» um Antisemitismus gehen, erscheint in diesem Kontext mindestens unpassend.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Forderungen der Motion durchaus sinnvoll sind; eine höhere Sensibilität für Antisemitismus ist insbesondere in der heutigen Zeit begrüssenswert. Bedenklich ist dagegen, wie hier versucht wurde, Antisemitismus gegenüber anderen Rassismusformen hervorzuheben. Eine solche Ungleichbehandlung ist materiell nicht gerechtfertigt und auch nicht im Sinne der Betroffenen.
Von Nico Zürcher
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