Artikel

«Migrant*innen werden wieder mal zu Sündenböcken gemacht»

Auf dieses Framing haben wir gerade noch gewartet: Es gäbe einen Zusammenhang zwischen Corona und Migration, heisst es von Seiten der SVP. Stimmt das? Soziologin Sarah Schilliger hat Antworten. Ein Gastbeitrag von Bajour-Reporterin Adelina Gashi.

«70 Prozent Migranten in den Spital­betten» titelte die «Basler Zeitung» am 2. Dezember. Und Landrat Hanspeter Weibel (SVP) spielte Migrant*innen gegen Beizer*innen aus: «Wenn wir bestimmte Bevöl­ke­rungs­gruppen nicht erreichen, dann verpufft die Wirkung breit gestreuter Massnahmen.» Es brauche Schnell­tests für Rückkehrer*innen aus dem Ausland statt einen Beizenlockdown.

Nun ist die Debatte auch auf Bundes­ebene angekommen. Thomas Aeschi, SVP-Natio­nalrat und Frakti­ons­prä­sident reichte eine Inter­pel­lation mit dem konstruk­tiven Titel «‹Corona-Heimkehrer› aus dem Balkan und Wirtschafts­mi­granten aus Afrika und arabi­schen Ländern besetzen unsere Spital­betten» ein.

Frau Schil­liger, die SVP kriti­siert aufgrund eines BaZ-Artikels, die Mehrheit der Menschen auf Inten­siv­pfle­ge­sta­tionen seien Migrant*innen. Wie sehen Sie das?

Sarah Schil­liger: Dass Migrant*innen so häufig aufgrund von Corona auf Inten­siv­sta­tionen landen, finde auch ich besorgniserregend.

Weshalb?

Es deutet darauf hin, wie ungleich Menschen diesem Virus ausge­setzt sind. Bei Aussagen wie jener von Landrat Weibel ist die Gefahr gross, dass eine soziale Frage «ethni­siert» wird und es zu pauschalen Schuld­zu­schrei­bungen an Migranten und Migran­tinnen kommt, statt dass die sozio­öko­no­mi­schen Ursachen des Ansteckungs­ri­sikos vertieft ergründet werden. Was in diesem Zusam­menhang kaum Erwähnung findet, ist, dass die Inten­siv­sta­tionen ohne Migran­tinnen und Migranten gar nicht funktio­nieren würden.

Wie meinen Sie?

47 Prozent der Ärzte und Ärztinnen in der Schweiz haben keinen Schweizer Pass und auch beim Pflege­per­sonal ist der Migra­ti­ons­anteil überdurch­schnittlich hoch. Das Schweizer Gesund­heits­system beruht zu einem hohen Prozentsatz auf impor­tierten Arbeits­kräften und auslän­di­schem Fachwissen – ohne sie wäre die Corona-Pandemie in der Schweiz gar nicht zu bewältigen!

Stimmt es denn, dass sich in der Schweiz Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund häufiger mit Corona infizieren? 

In der Schweiz ist die Datenlage bezüglich des sozio-ökono­mi­schen Hinter­grunds von Corona-Infizierten leider mangelhaft – es werden neben Geschlecht und Alter kaum syste­ma­tisch weitere Daten erhoben.

Und wie sieht es in anderen Ländern aus?

Unter­su­chungen aus OECD-Ländern zeigen, dass Migran­tinnen und Migranten klar überre­prä­sen­tiert sind bei den Covid-19-Fällen und bei der Sterb­lichkeit. So ist in Kanada, Dänemark, Norwegen, Portugal und Schweden das Infek­ti­ons­risiko für Menschen, die nicht in dem jewei­ligen Land geboren sind, doppelt so hoch. In den USA ist die hohe Sterb­lichkeit von Schwarzen Menschen auffällig. Ein altes Sprichwort unter Afroame­ri­kanern besagt: Wenn weisse Menschen eine Erkältung kriegen, holen sich Schwarze eine Lungenentzündung.

«Es hat nicht lange gedauert, bis vor allem jene erkrankten, die aus einkom­mens­schwachen Verhält­nissen kommen»

Heisst …?

Das ist meist im übertra­genen Sinn gemeint, etwa dann, wenn von einer wirtschaft­lichen Rezession die Rede ist. Was die Corona-Pandemie angeht, kann man den Spruch aber durchaus wörtlich verstehen: Schwarze Ameri­kaner und Ameri­ka­ne­rinnen sterben überdurch­schnittlich oft an Covid-19.

In den Medien hört man vor allem von älteren Menschen …

Häufig wird behauptet, dass das Corona­virus keine Grenzen kenne und alle gleicher­massen bedrohe. Die Krankheit Covid-19 sei der grosse Gleich­macher. Die ersten Nachrichten über Corona-Hotspots betrafen Menschen, die nicht unter Armut litten: Urlauber*innen in luxuriösen Ski-Desti­na­tionen oder auf Kreuzfahrtschiffen.

Aber?

Es hat nicht lange gedauert, bis vor allem jene erkrankten, die aus einkom­mens­schwachen Verhält­nissen kommen, die nicht genug zum Leben und nicht ausrei­chend Platz zum Wohnen haben, die unter prekären Bedin­gungen ihre Arbeits­kraft verkaufen müssen und denen der Zugang zu guter Gesund­heits­ver­sorgung verwehrt ist.

Corona trifft uns also nicht alle gleich. 

Nein, das zeigen inter­na­tionale Forschungen deutlich. Sinnbildlich dafür stehen die Schlag­zeilen aus der deutschen Schlacht­fabrik in Gütersloh. Schweine kann man nicht im Homeoffice schlachten.

In dieser Schwei­ne­fabrik erkrankten Mitar­bei­tende reihen­weise an Corona — sie wurden offenbar von der Leitung zu wenig geschützt.

Auch in der Schweiz gilt: Migran­tinnen und Migranten arbeiten überdurch­schnittlich häufig in Branchen, in denen die Ansteckungs­gefahr erhöht ist und Schutz­kon­zepte weniger greifen: in der Pflege, der Reinigung, auf dem Bau, in der Landwirt­schaft, im Detail­handel, in der Logistik. Ohne migran­tische Arbeit würden diese Branchen nicht funktio­nieren und wäre die Versor­gungs­si­cherheit der Schweizer Bevöl­kerung in Gefahr. Zudem leben Menschen, die in diesen häufig prekären Jobs arbeiten, weitaus öfter in engen Wohnverhältnissen.

Dr. Sarah Schil­liger ist Sozio­login und forscht an der Univer­sität Bern zu Migration, prekären Arbeits­ver­hält­nissen und Care. Sie ist zudem Lehrbe­auf­tragte am Seminar für Sozio­logie der Univer­sität Basel.

Steckt man sich in engen Wohnver­hält­nissen häufiger an?

Das traute Heim, in das man sich zurück­ziehen kann, kennen Menschen nicht, die in überbe­legten Wohnungen leben müssen. «Stay at home», Selbst­iso­lation und «social distancing» ist zudem auch unmöglich für Menschen, die gar kein Zuhause haben oder die in Flücht­lings­un­ter­künften auf engstem Raum leben. Und schliesslich spielt sicher auch eine Rolle, dass die Migra­ti­ons­be­völ­kerung mit beson­deren gesund­heit­lichen Problemen konfron­tiert ist und die Anfäl­ligkeit für schwerere Verläufe bei einer Covid-19-Erkrankung damit wohl höher ist.

Heisst das, Migrant*innen gehören überdurch­schnittlich oft zur Risiko­gruppe und sind anfäl­liger für Corona?

Daten des Bundes­amtes für Statistik zeigen beispiels­weise, dass der selbst wahrge­nommene Gesund­heits­zu­stand bei Frauen aus Südwest­europa um 10 Prozent tiefer liegt als bei Schweizer Frauen.

Und was ist mit den Zahlen aus Baselland?

Der Kanton Baselland wertet die Corona­zahlen in Bezug auf Wohnort und Herkunft aus. Regie­rungsrat Thomas Weber sagte der Basler Zeitung, dass er – ohne stati­stische Auswer­tungen zu haben – davon ausgehe, dass 40 Prozent der Neuan­steckungen, Menschen mit fremd­spra­chigem Hinter­grund oder einem entspre­chenden Umfeld betreffe. Laut BaZ haben die Behörden die «fremd­län­di­schen Namen» in Listen gezählt, die für das Contact-Tracing erstellt worden sind, wobei «40 Prozent der angeführten Namen auf einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund schliessen; es sind keine Müllers und Meiers». Das ist eine sehr fragwürdige metho­dische Heran­ge­hens­weise mittels einer stereo­typen Katego­ri­sierung in ein «Wir» und «die Anderen».

Weshalb? 

Es deutet darauf hin, dass noch nicht erkannt worden ist, wie sich die Schweizer Gesell­schaft in den letzten Jahrzehnten diver­si­fi­ziert hat: Neben Meier und Müller sind inzwi­schen auch Krasniqi, Nguyen oder da Silva sehr häufige Namen von Schweizer Familien. Vielen fällt es offen­sichtlich schwer, diese Alltags­nor­ma­lität einer postmi­gran­ti­schen Gesell­schaft zu anerkennen.

«Nicht berichtet wird hingegen von den Heraus­for­de­rungen, mit denen viele Migrant*innen während der Corona-Krise konfron­tiert sind.»

Laut Regie­rungsrat Thomas Weber ist es schwierig, Menschen, die nicht Deutsch reden, zu erreichen. Hat das zur Folge, dass es mehr Ansteckungen unter Migrant*innen gibt? Weil sie die Hygie­ne­vor­schriften nicht verstehen?

Auch dies ist eine Behauptung, die empirisch nicht erhärtet ist. Zurzeit wird eine Befragung der Migra­ti­ons­be­völ­kerung zu ihrem Infor­ma­ti­ons­ver­halten und zu ihrer Covid-19-bezogenen Gesund­heits­kom­petenz ausge­wertet, die Resultate werden bald publi­ziert.

Das heisst: Man weiss noch nicht, wie gut man die Migrant*innen erreicht?

Die BAG-Schutz­mass­nahmen sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Die Verbreitung dieser Infor­ma­tionen über verschie­denste nieder­schwellige – auch audio­vi­suelle – Kommu­ni­ka­ti­ons­kanäle ist sicher ganz zentral, um die Migra­ti­ons­be­völ­kerung mit Botschaften zu erreichen. Als Kanal sollten auch migran­tische Vereine stärker genutzt werden. Anderer­seits infor­mieren sich Migrant*innen häufig auch über Medien aus den Herkunfts­ländern. Und weil Corona ein globa­li­siertes Phänomen ist, sind Hygie­ne­mass­nahmen auch dort sehr präsent. Abgesehen davon ist es wohl für uns alle nicht ganz einfach, den Überblick zu behalten darüber, was wann in welchem Kanton genau an Regeln gelten …

Fazit: Migrant*innen erkranken tatsächlich häufiger an Covid. Der Grund sind aber nicht unbedingt Reisen oder mangelnde Hygiene, sondern Armut und riskante Jobs. 

Was ich sehr fragwürdig finde an der jetzigen Bericht­erstattung: Mal wieder werden die Migran­tinnen und Migranten zu Sünden­böcken gemacht. Nicht berichtet wird hingegen von den täglichen Heraus­for­de­rungen, mit denen viele Migrant*innen während der Corona-Krise konfron­tiert sind. Zum Beispiel über die Tatsache, dass viele Migrant*innen mit B- oder C‑Ausweis aufgrund des verschärften Auslän­der­ge­setzes (AIG) auf keinen Fall sozial­staat­liche Leistungen in Anspruch nehmen, auch wenn ihre Existenz aufgrund von Corona bedroht ist – weil sie befürchten, damit die Verlän­gerung ihrer Aufent­halts­be­wil­ligung zu gefährden.

 

Dieser Beitrag erschien bei Bajour, der neuen Online-Stimme in Basel. Das Medium schaut auf die Hinter­gründe und Themen, die anderswo im Newsge­witter liegen bleiben.
  1. Павел

    Eine Rolle spielte sicherlich auch der Diskurs uber die ‘Uberfremdung’, ein Begriff, der schon etwa vierzig Jahre vor besagtem Artikel zum ersten Mal in der Schweiz auftauchte: Zunachst wollten die Behorden dieses ‘Problem’ mit Massen­ein­bur­ge­rungen losen, bald aber entstand daraus eine Diskussion uber nationale Eigen­arten, anscheinend auch im beim Thema Torjubel. 1917 wurde zudem die eidge­nos­sische Fremden­po­lizei gegrundet: Auslander*innen wurden fortan genaue­stens gemustert und alle, die langer im Land blieben, sollten ‘assimi­liert’ werden. Hochkon­junktur hatte dieses Denken in den 19r-Jahren: Neue ‘Sudlander*innen’ — insbe­sondere Suditaliener*innen — kamen in die Schweiz, weil die Wirtschaft sie gerufen hatte.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert