Özge verreist letztes Jahr zum ersten Mal zwei Nächte allein. Als Souvenir nimmt sie ein Gedicht und neuen Mut mit nach Hause. Ein Appell an uns alle.

Letztes Jahr im September war ich zu Besuch bei meinen Eltern, die wegen den tieferen Lebens­hal­tungs­kosten mehrere Monate pro Jahr in der Türkei verbringen. Eigentlich wollte ich während meines Aufent­halts viel schreiben. Jedoch war ich blockiert. Die Tage  vergingen und ich spürte den Drang, etwas zu ändern. 

Die griechische Insel Samos ist mit dem Schiff nur eineinhalb Stunden entfernt. Ich sehe sie jeden Tag von der Küste aus. Zum ersten Mal einen neuen Ort allein entdecken, könnte das meine Blockade lösen? 

Es fällt mir schwer, das Hotel zu buchen. Was, wenn ich mich einsam fühle? Wenn mir langweilig ist? Mir unwohl ist? Diese Zweifel fliessen in meine Suche mit ein. 

Ein kleines Hotel, das unattraktiv für Männer ist, die auf der Jagd nach Gesell­schaft sind. Als Frau ohne Begleitung kann man schnell zur Zielscheibe werden. Besonders im Bikini am Strand möchte ich keine starrenden Blicke auf meinem Körper spüren. Ich will mich frei bewegen können, ohne Angst zu haben, dass mir jemand aufs Zimmer folgt. Direkt am Strand, um die Wege kurz zu halten, und am besten mit Aussicht. 

Meine Kriterien führen mich zu einem Fünfster­ne­hotel. Montag hin und Mittwoch zurück. Schnell wieder zuhause, falls das Experiment ein Reinfall wird. Lange genug, um eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie sich ein Trip mit mir selbst anfühlt. Pluspunkt dazu sind die niedri­geren Preise unter der Woche. Noch einige ermuti­gende Worte von meinem Partner, der leider in der Schweiz zurück­bleiben musste, und das Hotel ist gebucht.

Human oder Swiss?

Am Tag meiner Abreise ist der Himmel ein wenig bewölkt. Ich bin froh darüber, denn ich möchte auf dem oberen, offenen Deck sitzen und die Schiffs­fahrt geniessen. 

Ob es an den Morgen­stunden, am Ambiente oder an einem ungeschrie­benen Pakt liegt: Es spricht fast niemand. Somit lasse ich meine Kopfhörer in meinem Rucksack und versuche die Reise mit allen meinen Sinnen aufzu­nehmen. Als wir uns in einer Art Korridor befinden, links von mir die Türkei, rechts Griechenland, weiss ich, ist unser Ziel nicht mehr weit.

«What are you?»

Angekommen am kleinen Hafen von Pytha­gorio dauert es eine Weile, bis ich das Schiff verlassen kann. Dann sehe ich zwei Warte­schlangen vor mir. Ein Mann ruft etwas. Ich gehe auf ihn zu und bitte ihn auf Englisch höflich, sich zu wieder­holen. Sein Blick mustert mich von oben nach unten: «What are you?», fragt er mich. Ich möchte antworten «A human being», aber sage «Swiss». Er deutet mit der Hand «Go left!». 

Danach verstehe ich, dass nach türki­scher Natio­na­lität und allen anderen getrennt wird. Wäre ich mit meinem türki­schen Pass unterwegs gewesen, hätte ich nicht nur anders anstehen müssen, ich hätte zusätzlich ein Visum benötigt. 

Im Hotel werde ich herzlich empfangen und zu meinem Zimmer geführt. Dankbarkeit überkommt mich in diesem Moment – dass ich mir dieses wunder­schöne Zimmer leisten kann und das Privileg habe, zu reisen.

Ab ins Wasser 

Nach dem ersten Tag ist mir bereits klar, dass ich gut allein Zeit verbringen kann. Am zweiten Tag ist keine einzige Wolke am Himmel. Ich gehe viel ins Wasser, lasse mich treiben. Lausche dem Meer, und schliesse die Augen. Die Sonne brennt auf meinen Augen­lidern, aller­dings möchte ich sie nicht öffnen. Statt­dessen fokus­siere ich mich aufs kühle Nass. Meine Haare bewegen sich leicht zum Rhythmus der winzigen Wellen. Dem Wasser ist es egal, was ich bin, geht mir durch den Kopf. Ich darf einfach sein. 

Die Verbun­denheit von Körper, Seele und Natur löst meine Blockade. Ich öffne die Augen, schwimme zurück ans Ufer und schreibe das Gedicht «Born in oceans». (Das Gedicht findest du am Ende des Textes.)

Der dritte und folglich letzte Tag ist durch­ge­plant: Zimmer räumen, Strand besuchen, Magen füllen, Salzwasser abduschen und losfahren zum Hafen. Dieses Mal kann ich mich vor Ort selbst orien­tieren. Bei der Ausreise gibt es nämlich nur eine Warteschlange. 

Mut zur Hoffnung

Ich erzähle von diesem Erlebnis, weil ich auch Monate später immer wieder an meine Reise nach Samos denken muss. Wie viel Mut es mich gekostet hat, insbe­sondere als Woman of Color, allein Zeit auf der Insel zu verbringen. 

In meinem Inneren spüre ich diese tiefsit­zende Angst, nicht geschützt zu sein. Mein Leben ist geprägt von physi­schen und psychi­schen Übergriffen an Orten, die sicher sein sollten. In der Schule, am Arbeits­platz, in vermeintlich liebe­vollen Beziehungen. 

«Fall nicht negativ auf, halte dich an die Regeln, dann passiert dir nichts» – es ist naiv, das zu denken. Aus Erfahrung weiss ich, dass manchmal meine blosse Anwesenheit für hasserfüllte Menschen eine Provo­kation ist. 

Nach Samos zu gehen, forderte von mir, mich dieser Angst zu stellen. Denn reise ich mit meinem Partner oder einer Freundin, ist das eine Art Sicherheit. Es hilft mir zu wissen: zumindest eine Person, die mich liebt und als Mensch sieht, ist an meiner Seite. Wer setzt sich für mich ein, wenn ich allein bin? 

Demge­genüber steht, wie privi­le­giert die ganze Erfahrung ist. In meinem eigenen Umfeld mit Migra­ti­ons­ge­schichte muss ich nicht lange suchen, um Personen zu finden, die sich niemals etwas Ähnliches leisten könnten. Dies ist kein Zufall, sondern die Folge von struk­tu­reller Diskri­mi­nierung. Zudem heisst Mut für viele Andere auf der Welt, mit nichts im Gepäck ihr Zuhause verlassen zu müssen, ohne zu wissen, wohin. Auf die Strassen zu gehen, trotz drohender Gewalt, Folter oder Haftstrafen. Laut zu sein, obwohl es sie ihr Leben kosten wird. Das Lächeln für die Kinder beizu­be­halten, während das Leiden unerträglich ist. Mut sieht für Millionen von Menschen ganz anders aus. 

Ich bin überzeugt, dass Kriege, Unter­drückung, Vertreibung und Gewalt nicht zwingend zum mensch­lichen Dasein gehören. Sie werden spezi­fisch genährt, zum Beispiel von der Gier nach Macht und Geld. Entgegen meiner Überzeugung gibt es Momente, da scheint es mir hoffnungslos, mich für eine gerechtere Welt einzu­setzen. Am meisten frustrieren mich die Gespräche, in denen sich das Gegenüber keine andere Welt vorstellen kann. Oder (unbewusst) nicht vorstellen möchte. Die Welt sei nun mal so, wie sie ist. 

Droht dieser Frust, mich zu lähmen, erinnere ich mich an diesen kurzen Augen­blick im Wasser in Samos. Es fühlte sich an, als würde Frieden durch mich fliessen. Als würde mich die Welt überzeugen wollen, dass sie verän­derbar ist. Dieses intensive Gefühl verleiht mir Kraft, weiterhin mutig zu sein. Daraus schöpfe ich Glauben, um für meine Hoffnung einzu­stehen: Eine Zukunft, in der nicht nur ein paar ausge­wählte Privi­le­gierte, sondern alle Menschen einfach sein dürfen – leben dürfen. Eine Zukunft, in der sich niemand fragen muss: Wer setzt sich für mich ein, wenn ich allein bin? 

Born in oceans

Come water, take me whole
My purest friend since I was born
Your excitement hits the shore
Each curly hair soaking joy

Come water, take me now
Deep like my ancestors’ eyes
Flow over me softly cold
Heal this body abused too long

Come water, take me home
My lost siblings bath in wrong
Let them remember: we all are one
Born in oceans, raised by the sun

über

ist in ihrem Umfeld bekannt für Polit-Diskussionen, obwohl sie lieber über Fussball und Single Malts sprechen würde. In ihren Texten will sie vermitteln: Wir sind nicht allein.

  1. Ruth Colella

    Deine Geschichte und das Gedicht haben mich berührt. Danke! Özge

  2. Evelyne Owa

    Das ist eine wunderbare Erfahrung, ich fühlte beim Lesen mit dir. Toll geschrieben, Özge!

  3. Mariem Fiadjigbe

    So wunder­schön, danke fürs Teilen Özge

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