Jahrzehnte lange Arbeit hat die Eltern von Arzije gezeichnet. Weshalb dies Schuldgefühle in ihr auslöst und wonach sie sich sehnt, erzählt sie in ihrer Kolumne Arzije Kolumnije.

Mein Vater winkt mir zu. Zwei Finger fehlen an seiner Hand. Vor Jahren verlor er sie bei einem Arbeits­unfall. Ich rufe meine Mutter im Krankenhaus an. Ihre müde Stimme am Telefon weckt alte Erinne­rungen. «Eine Metall­stange ist mir bei der Arbeit auf den Kopf gefallen.» Letztes Mal wurde ihr Rücken verletzt. «Dieses Mal ist es nicht so schlimm. Ich darf morgen wieder nach Hause kommen.» Zwischen Arztter­minen und Aufent­halten im Krankenhaus arbeiten sie Vollzeit in Fabriken. Immer dankbar für ihre Arbeit, obwohl sie sich dieses Leben nie gewünscht haben. Sie hatten einst Träume und das Verlangen, beruflich etwas zu erreichen. Doch was für einen Wert hatten ihre Diplome hier in der Schweiz?

«Diesen Sommer gehe ich in die Frühpension.»

Jetzt, wo alle Kinder ausge­zogen sind, verdienen sie endlich genug, um alle ihre Rechnungen zu bezahlen. «Diesen Sommer gehe ich in die Frühpension», teilt mir mein Vater mit einem müden Lächeln mit. Unsicher argumen­tiert er seinen Entscheid. Eine Entscheidung, die ich schon lange gutheisse. Es bricht mir das Herz, dass er denkt, er müsse sich erklären. Doch trotzdem kommen bei mir Fragen auf. Wird seine Rente genügen? Wird sie gezeichnet sein von Arztter­minen und Kranken­häusern? Wird er sich wenig­stens in der Rente ein bisschen ausruhen dürfen? Wie viele Opfer noch für ein sicheres Leben im Westen, das rückblickend nicht mehr so sicher scheint?

Meine Eltern liessen alles zurück und schenkten mir und meinen Geschwi­stern Sicherheit und Bildung. Bildung, die hier und überall zählt. Mit dieser Bildung sind wir aufge­stiegen in eine Schicht, in der wir uns unser Zimmer nicht mehr durch drei teilen müssen. In eine Schicht, in der wir uns minde­stens dreimal im Jahr Urlaub leisten können und nicht immer auf den Sommer warten müssen. In eine Schicht, in der ein Restau­rant­besuch nichts Beson­deres mehr ist, sondern Norma­lität. Eine Schicht, in der Geldsorgen einen kleinen Stellenwert haben. Statt­dessen bereiten mir Selbst­er­füllung und das Streben nach Erfolg Kopfschmerzen.

«Wie kann ich meiner Mutter erzählen, dass ich heute das Doppelte von ihr verdiene?»

Manchmal sitze ich in meiner Wohnung und fühle mich in meinen eigenen vier Wänden fremd. Ich sehne mich nach unserem kleinen Zuhause. Das Kinder­zimmer, das ich mit meinen Schwe­stern geteilt habe. Wann geschah dieser Wechsel? Wie kann ich all dies annehmen, wenn ich sehe, wie ihnen all das verwehrt blieb? Wie kann ich meiner Mutter erzählen, dass ich heute das Doppelte von ihr verdiene? Als wären ihr Fleiss und ihre Arbeit weniger wert? Meine Mutter möchte so lange arbeiten, wie ihr Körper mitmacht und aushält. Doch was nützt ihr die Pension, wenn sie sich nicht mehr bewegen kann?

Ich schäme mich, denn meine Eltern sind stärker als ich. Mental wie auch körperlich. Sie arbeiten Vollzeit, schmeissen den Haushalt und beschenken uns mit ihrer Präsenz, wenn wir auch heute noch im Erwach­se­nen­alter nach ihnen rufen. Werde ich jemals so viel stemmen können wie sie? Oder kommt das vielleicht mit der Zeit? Diese Resilienz?

«Für eine bessere Zukunft für euch.»

Sie haben sich längst mit dem abgefunden, was bei mir erst jetzt einen so tief steckenden Schmerz weckt. Ihre Kindheits­träume, Selbst­ver­wirk­li­chung, die Nähe ihrer Familie, Freun­des­kreise und Gesundheit – alles geopfert im Gegenzug für ewiges Heimweh, verpasste Famili­en­zu­sam­men­künfte und Krankheit. «Für eine bessere Zukunft für euch.» Und sie haben ihr Ziel erreicht. Unsere Zukunft ist besser, doch ich kann sie immer noch nicht schuldfrei annehmen. Geblendet von den sauberen Strassen, der Sicherheit, der Ordnung und dem Wohlstand, vergessen wir oft die Realität der Arbeiterschicht.

  1. Ich kenne das all zu gut. Vor 10 Jahren, hat mein Vater gesagt das er im nächsten Winter in Frühpension gehe inkl. Meiner Mutter. Wir Kinder seien alle versorgt. Im April 2012, voller Energie ging er für eine Woche nach Mazedonien um nach dem Hausbau zu schauen. Die Vorfreude, die greifende Erleich­terung… weiss gott was, hat ihn umgebracht. Er hat einen dreifachen Herzin­frakt erlitten.
    Deine Eltern sollen ihre Pension nicht aufschieben, man weiss nie was morgen ist. Leider.

  2. Nexhibe

    Liebe Arzije
    Für mich war sehr berührend diese Kapitel zu lesen aber für Dich zu zuschreiben war sicher viel emotionaler!

    Ich bin auch stolz was deine Eltern für euch drei Geschwi­stern geopfert. Das ist eine wahre Geschichte wo mir gerade mitge­nommen hat und mir durch das lesen, weit zurück mit Gedanken gebracht.
    Eine tolle tochter wie du bist, grosse Leistung von deine Eltern!
    Herzlichst
    Nexy

  3. Sehr schön geschrieben!

  4. Wow mega gut geschrieben, kann voll nachfühlen! Toll Arzije ❤️!

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