Auf dem abgelegenen Glaubenberg betreibt der Bund ein Asylzentrum in der Nähe eines Militärschiessplatzes. Die Bedingungen für die Geflüchteten sind fragwürdig. Als Notunterkunft gedacht, werden nach fast 10 Jahren noch immer Geflüchtete dort untergebracht. Warum das Zentrum seit Jahren in der Kritik steht.
Von Edith Bourhoumi
Eine grossartige Aussicht, Ruhe, Abgeschiedenheit und eine naturgeschützte Moorlandschaft. Der Glaubenberg hoch über Sarnen im Kanton Obwalden zieht viele Besuchende an. Die Passhöhe auf 1500 m.ü.M. scheint ein idealer Erholungsraum zu sein. Jedenfalls hinterlassen die vielen Rezensionen auf Google Maps diesen Eindruck. Doch eine Bewertung unterbricht die Romantik:
« […] wenn die Schiessplätze belegt sind, dann fühlt man sich auf dem Glaubenberg wie im Krieg. Für die Asylsuchenden in der anderen Hälfte des Lagers soll das wohl eine Therapie durch Schmerz sein […].»
Eigentlich eine Notlösung
Seit 2015 wird das Truppenlager der Schweizer Armee auf dem Glaubenberg als Bundesasylzentrum (BAZ) genutzt. Wegen der vielen Asylgesuche musste damals eine schnelle Lösung her.
Nach einer sechsmonatigen Notbelegung entschied man sich für eine vorerst dreijährige Nutzung. Da jedoch keine Anschlusslösung gefunden wurde, nutzt das SEM das Truppenlager bis heute als Unterkunft. Die Asylsuchenden bleiben jeweils 140 Tage im Zentrum, die gepachtete Kaserne bietet Platz für 340 Personen.
«Das Militär ist die einzige Institution, die auf die Schnelle so viel Platz bereitstellen kann», sagt Cedric Ruckli, Militär Hauptkommandant auf dem Glaubenberg, per Telefon. Und eine Alternative zur Notlösung Glaubenberg scheint zur Zeit nicht in Sicht – obwohl das BAZ in der Vergangenheit mehrmals in der Kritik stand.
Bereits kurz nach der Eröffnung des BAZ im Jahr 2015 kritisierte eine ehemalige Mitarbeiterin in der Zeitung «Bote der Urschweiz» unhaltbare Zustände. Die damalige Betreiberin, die ORS Service AG, bestritt diese nicht.
«Die WC-Anlagen stinken widerlich, die Treppenhäuser sind schmutzig.»
In einem Brief an die Medien beschrieb die ehemalige Mitarbeiterin die Situation im Asylzentrum: «Die WC-Anlagen stinken widerlich, die Treppenhäuser sind schmutzig» und «viele Bewohner sowie Personal machten einen kranken Eindruck».
Später sollen sich die Umstände verbessert haben, worauf das Staatssekretariat für Migration die Medien für eine Besichtigung einlud. Dennoch: Anfang November 2023 war das BAZ Glaubenberg erneut in den Schlagzeilen. Diesmal wegen tätlicher Auseinandersetzungen zwischen Asylsuchenden. Die aktivistische Gruppe «Resolut» veröffentlichte anschliessend ein Statement, in welchem sie die Schliessung des Asylzentrums auf dem Glaubenberg forderte.
Sie kritisiert, dass sich die Menschen dort nicht sicher fühlen würden, und viele Bewohnende verängstigt seien. Weiter berichtet sie, dass Menschen in den Zimmern eingeschlossen und nichts zu essen bekommen würden. Resolut betont, dass es sich bei den Bewohner*innen des BAZ Glaubenberg um schutzsuchende Menschen handelt, unter ihnen viele Kinder. Viele der Untergebrachten leiden aufgrund von Flucht und Vertreibung unter psychischen Problemen.
Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) kritisiert in einem Bericht, dass im BAZ Glaubenberg 2022 sieben Mal Personen in sogenannten «Sicherheitsräumen» festgehalten wurden. Auf Nachfrage von baba news bestätigt eine Asylsuchende, die derzeit auf dem Glaubenberg untergebracht ist, dass Menschen in weissen Containern eingeschlossen würden. Das Staatssekretariat für Migration, welches das BAZ auf dem Glaubenberg betreibt, hat dazu gegenüber baba news bis heute keine Stellung genommen. Die Vorwürfe von Resolut dementierte das SEM in einem Artikel der Obwaldner Zeitung.
Auf Nachfrage von baba news bestätigt eine Asylsuchende (…), dass Menschen in weissen Containern eingeschlossen würden.
Kein ÖV-Anschluss in der Zwischensaison
Weiter kritisiert das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR die isolierte Lage des BAZ Glaubenberg. In einem Bericht des UNHCR heisst es, dass die Abgelegenheit kaum Kontakt zur Aussenwelt erlaube, und es den Bewohnenden erschwere, sozialen Anschluss in der Umgebung zu finden.
Ein Blick in den SBB-Fahrplan zeigt: In der Zwischensaison gibt es keinen ÖV-Anschluss ins 13 Kilometer entfernte Sarnen. Und fährt der reguläre Bus, können sich die Asylsuchenden diesen meist nicht leisten. Also sind sie auf den Shuttlebus angewiesen. Dieser fährt morgens ein Mal vom Glaubenberg nach Sarnen und nachmittags um 16 Uhr zurück zum BAZ.
An manchen Orten scheinen die Asylsuchenden auch unerwünscht zu sein. Im Hotel Langis, fünf Fussminuten vom BAZ entfernt, gibt es laut Beschriftung öffentliche Toiletten. Ein Schild am Eingang des Hotels weist jedoch deutlich darauf hin, dass das Betreten der WCs nur gewissen Personen erlaubt ist. «Nur für Gäste Hotel-Restaurant Langis, Pistenbenützer und Wanderer» – die Bewohner*innen des BAZ sind somit ausgeschlossen.
Die Postautofahrt von Sarnen auf den Glaubenberg ist kurvenreich. Rund 30 Minuten dauert die Reise. Bald passiert der Bus ein letztes Dörfchen. Noch vereinzelt zieren Bauernhöfe die Landschaft, doch mit zunehmender Höhe verschwinden auch diese. Die Umgebung wird karger und die Illusion des frühen Frühlings, welche die letzten Tage hinterlassen haben, endet.
Auf dem Glaubenberg liegt frischer Schnee. Ein eiskalter Wind zischt über die Passstrasse. Der Chauffeur rennt durch den Schnee ins Restaurant Langis. Erst in 20 Minuten fährt er wieder nach Sarnen.
Kein*e Asylsuchende*r traut sich bei diesem Wetter aus dem Zentrum. So karg wie die Landschaft wirkt auch das Truppenlager. Die Abgeschiedenheit hinterlässt ein Gefühl der Ohnmacht. Die Isolation des Zentrums ist erdrückend. Und diese Recherche zeigt, nebst den prekären hygienischen Bedingungen im Zentrum, den tätlichen Auseinandersetzung und der isolierten Lage der Unterkunft, gibt es noch einen ganz anderen Umstand, der Fragen rund um das BAZ auf dem Glaubenberg aufwirft, insbesondere mit den Menschen, die dort untergebracht sind.
Nähe zu Schiessanlagen der Armee
Das BAZ Glaubenberg ist eigentlich ein umgenutztes Truppenlager der Schweier Armee. Folgt man der Glaubenbergpassstrasse am BAZ vorbei weiter bergaufwärts, gelangt man zu Fuss in fünf Minuten zu einem ganzjährig besetzten Schiessplatz, dem zweitgrössten Militärschiessplatz der Schweiz.
Gemäss den Schiessanzeigen auf der Internetseite des Militärs können hier bis Ende April 2024 an Werktagen von 07:00 bis 18:00 Uhr Schiessübungen durchgeführt werden. Das bedeutet, dass Schiessübungen jederzeit möglich sind.
Stabsadjutant Seth Abderhalden erklärt auf Anfrage per E‑Mail, dass die Lage der Schiessplätze es ermöglicht, die Plätze von Oktober bis April kurzfristig zum Schiessen zu benutzen, ohne dass die Benutzer*innen die Frist einer Publikation abwarten müssen. Das bedeutet, es kann in diesem Zeitraum von Montag bis Freitag mit spontanen Schiessübungen gerechnet werden. Ab April wird wieder jeder Schiesstag auf der sogenannten Schiessanzeige, die öffentlich einsehbar ist, aufgeführt.
1 Hotel Langis und Postautohaltestelle / 2 BAZ und Truppenlager / 3 ganzjähriger Schiessplatz / 4 Gebiet des Militärs, auf dem diverse Gefechtsübungen stattfinden
Folgt man der Glaubenbergpassstrasse weitere 20 Minuten, beginnt ein grossräumiges Gebiet, welches von der Armee für Übungen mit Infanterie, Mörsern (Granatwerfern) und Sprengmitteln genutzt wird. Für den Monat Mai sind an fünf Tagen von 07:00 bis 18:00 Uhr Übungen mit Mörsern geplant. Am anderen Ende dieses Areals finden auch Übungen mit Kampfjets des Typs F‑A 18 statt.
Auf der Website der Schweizer Armee wird darüber informiert, dass das Betreten dieses Gebietes während der Übungen lebensgefährlich ist. Weiter wird davor gewarnt, dass im Übungsgebiet Blindgänger angetroffen werden können. Blindgänger sind Geschosse wie beispielsweise Granaten, die bei Übungen nicht wie geplant explodiert sind. Die korrekte Handhabung solcher Geschosse ist essentiell.
Ob die Asylsuchenden im BAZ Glaubenberg hierzu informiert werden, hat uns das Staatssekretariat für Migration (SEM), welches das Asylzentrum betreibt, bis zum kommunizierten Zeitpunkt nicht beantwortet. Somit bleibt offen, ob eine potentielle Gefahr für die Asylsuchenden bestehen könnte. Klar ist hingegen: Die Schüsse vom Schiessplatz sind für die Bewohnenden des BAZ zu hören. Das haben mehrere Personen vor Ort bestätigt, unter ihnen auch ein Asylsuchender.
Was bedeutet es für Asylsuchende, von denen viele Kriege und Waffengewalt erlebt haben, an einem Ort untergebracht zu sein, in dessen unmittelbarer Umgebung geschossen wird?
Die Psychologin, Psycho- und Traumatherapeutin Noémie Issartel engagiert sich im Rahmen des Vereins Psy4Asyl für geflüchtete Menschen im Kanton Aargau. In einem Zoom-Interview teilt Issartel ihr Fachwissen zu Traumafolgestörungen.
Schiessgeräusche können retraumatisieren
Laut Issartel gehen Fachpersonen davon aus, dass rund 60 Prozent der Geflüchteten an Traumafolgestörungen leiden. Die Ursachen wie auch Trigger seien unterschiedlich. «Traumatisierungen können beispielsweise ausgelöst werden, wenn eine Person körperliche Gewalt, sexualisierte Gewalt, Verwahrlosung oder bedrohliche Naturereignisse erlebt.»
Trigger wiederum können die traumatisierte Person an ihr Trauma erinnern und sie emotional in den Moment der Traumaerfahrung zurückversetzen. Das sei für die psychische Gesundheit belastend, da die betroffene Person keine Kontrolle über diesen Prozess der Wiedererinnerung und des Wiedererlebens habe, so die Expertin. Diese Wiedererinnerung läuft so lange unkontrolliert ab, bis die Betroffenen in der Therapie einen Umgang mit den Triggern erlernen.
Zu den Schiessübungen sagt Issartel: «Diese könnten insofern eine Schwierigkeit darstellen, wenn eine Person eine lebensbedrohliche Situation erlebt hat, welche im Zusammenhang mit Schüssen stand. In diesem Fall könnten Schüsse als Trigger fungieren und die Traumainhalte wieder zurückholen. Hierbei spricht man von einer Retraumatisierung. Aber: Nicht alle Menschen, die eine lebensbedrohliche Situation erlebt haben, werden dadurch traumatisiert.»
«Gemäss Fachpersonen leiden 60 Prozent der Geflüchteten an Traumafolgestörungen.»
«Retraumatisierung» bedeutet also, dass die Person das Trauma wieder erlebt. Ob dies tatsächlich passiert, könne man aber erst nach einer individuellen Abklärung feststellen, erklärt die Expertin. «Entscheidend ist, dass die Asylsuchenden über die Schiessübungen informiert werden», sagt Issartel weiter. «Sind sich die Untergebrachten bewusst, dass rein aus Übungszwecken geschossen wird, können sie lernen, die Schüsse einzuordnen.»
Weiter betont Issartel, dass die Psychoedukation zu den Themen Stress, Trauma, und Stressregulation bei belasteten Menschen eine entscheidende Rolle spiele: «Es ist wichtig, dass sich traumatisierte Personen mit ihrem Erlebtem auseinandersetzen.» Psychoedukation ziele darauf ab, dass Betroffene ihr Erleben und ihre Belastungen besser verstehen lernen.
Der Verein Psy4Asyl führt im BAZ Brugg im Kanton Aargau monatlich Schulungen in Psychoedukation zu Stress (Trauma) und Stressregulation durch. Die Geflüchteten lernen hierbei, was ein Trauma und dessen Folgen sein können, und wie sie mit den Symptomen umgehen können. Diese Schulungen würde Issartel für alle BAZ empfehlen, da das Wissen um das eigene Erleben und die Belastung die Grundlage für die Bewältigung des Traumas sei.
Zu wenig psychologische Betreuung
Beim Bund ist man sich der Herausforderung betreffend der psychischen Gesundheit und Traumafolgestörungen von Asylsuchenden bewusst, kämpft aber mit knappen Ressourcen.
Samuel Wyss, Mediensprecher des SEM, sagt, dass zur Umsetzung präventiver Massnahmen hinsichtlich psychischer Erkrankungen und Traumata bereits versucht werde, Traumafolgestörungen früh zu erkennen. Bei der medizinischen Erstabklärung würden die Asylsuchenden zu ihrem Gesundheitszustand befragt.
Er weist aber darauf hin, dass auch im Bereich der psychologischen und medizinischen Betreuungspersonen ein markanter Fachkräftemangel herrsche. Der Zugang zu psychologischen Behandlungen sei in den letzten Jahren zwar verbessert worden, «trotzdem ist das Kontingent dieser Institutionen beschränkt».
«Im Vorfeld informieren wir alle Asylsuchenden, dass sie auf einem Militärgelände untergebracht werden», erklärt Wyss weiter. «Gewisse Personen reagieren verständlicherweise verängstigt. Manche auch alleine schon durch die optische Anwesenheit von Militärangehörigen.»
«Wir informieren alle Asylsuchenden, dass sie auf einem Militärgelände untergebracht werden.»
Auch vor den anstehenden Schiessübungen würden die Geflüchteten jeweils informiert. «Wir erklären den Asylsuchenden, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, dass es sich um ‹Übungen› handle, und dass sie sich jederzeit melden können, wenn sie beunruhigt oder verängstigt sind. Wir nehmen das selbstverständlich sehr ernst, Medic-Help oder die Seelsorge stehen betroffenen Personen jederzeit zur Verfügung. Richtig ist: Die Schiessübungen treten oft auch überraschend ein, sodass nicht immer rechtzeitig im Voraus informiert werden kann.»
Medic-Help ist die Anlaufstelle für Gesundheitsfragen in den BAZ, eine Art hausärztlicher Dienst für die Untergebrachten, der auch für die allgemeine gesundheitliche Erstabklärung zuständig ist. Diese Recherche zeigt: Medic-Help steht den Bewohnenden auch auf dem Glaubenberg zur Verfügung. Gleichzeitig wurden für dieses BAZ monatelang Pflege- und Betreuungspersonen gesucht.
Verlängerung des BAZ?
Seit 10 Jahren ist das SEM nun schon auf der Suche nach einem langfristigen Standort für ein Bundesasylzentrum in der Zentralschweiz. Aktuell gibt der Plan eines BAZ in Buosingen in Arth Goldau viel zu reden in der lokalen Bevölkerung – wie damals auch der geplatzte Standort Wintersried. Kurz nachdem das SEM im Januar 2024 seine Absichten zum Bau des Zentrums mitteilte, lancierte die SVP eine Petition dagegen. Diese zählt, Stand Juni 2024, bereits mehr als 5’000 Unterschriften.
Es ist weiterhin ungeklärt, wie lange das BAZ Glaubenberg noch bestehen wird. Die Teilnutzung des Truppenlagers durch das SEM wurde vorerst bis Mitte 2025 verlängert. Auch wenn das BAZ in Buosingen realisiert werden sollte, kann nicht vor 2030 mit dessen Fertigstellung gerechnet werden. Wie und wo das SEM diese Lücke schliesst, bleibt abzuwarten.
Abwarten, das müssen auch die Asylsuchenden. Bis auf unbestimmte Zeit sind sie im isolierten BAZ Glaubenberg den Geräuschen von Schiessübungen, und somit einer potentiellen Retraumatisierung, schutzlos ausgeliefert.