Am 11.11. durften wir an der Palästina-Demo in Zürich eine Rede halten. Falls du sie an der Demo verpasst hast, kannst du die Rede hier nachlesen.
In den vergangenen Wochen wurden über 11’000 Menschen in Gaza vom israelischen Militär ermordet, darunter über 4’000 Kinder. Es sind Zahlen, die wir uns nicht ansatzweise vorstellen können. Denn wer schafft es schon, sich 4’000 tote Kinder auf diesem Platz vorzustellen? Haufenweise übereinandergestapelt. Ich schaffe es nicht.
Dass uns eine Vorstellung darüber fehlt, wer diese Menschen sind, ist auch ein Resultat davon, dass sie in der breiten Berichterstattung grösstenteils in Form von Zahlen wegrationalisiert werden. Denn dass hinter diesen Zahlen Menschen stehen, die am Strand von Gaza spazieren oder baden gingen, mit ihren Freund*innen Geburtstag feierten, die sich verliebten und Familien gründeten, sich um ihre Kinder sorgten, wird in der breiten Berichterstattung selten gezeigt. Dass die Menschen von Gaza Menschen sind, wird selten gezeigt.
«Nie wieder Gräueltaten für niemanden!»
Wir sind heute hier, weil wir nicht länger zusehen können, wie tagtäglich Tausende von Bomben auf über 2,2 Millionen Menschen abgeworfen werden. Wir sind hier, weil wir nicht zusehen können, wie ein Genozid an Tausenden von Menschen begangen wird. Wir sind hier, weil Europa einmal ein Versprechen gegeben hat, das hiess: Nie wieder! Und ich möchte dieses Versprechen präzisieren, indem ich sage: NIE wieder Gräueltaten für niemanden! Dieses Versprechen möchten wir mit aller Kraft einfordern, indem wir rufen: Stop the genocide!
Darüber hinaus muss es möglich sein, in einem Land wie der Schweiz, die Hintergründe der Geschehnisse in Israel und Gaza kritisch zu beleuchten. Es muss möglich sein, die jahrzehntelange israelische Besatzung als Kontext herbeizuziehen. Es müsste möglich sein. Doch anscheinend ist es das nicht immer.
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider sagte bei einer Rede über die Pressefreiheit: «Nur wenn Journalistinnen und Journalisten ihrer Arbeit ohne Angst, ohne Schere im Kopf nachgehen können, ist die Pressefreiheit gewährleistet.»
«Man hat von den Institutionen verlangt, sich von uns zu distanzieren oder sogar unsere Gelder zu streichen.»
Angst ist ein gutes Stichwort. Denn momentan spüren wir, dass in der Tat eine grosse Angst da ist, Dinge zu benennen. Unsere Redaktion hat Dinge benannt, und wurde damit zur Zielscheibe von Einzelpersonen und Organisationen, die unsere Kritik am israelischen Staat scheinbar nicht ertragen konnten.
Es wurden Stiftungen und Behörden kontaktiert, die Projekte von uns unterstützt hatten. Man hat sie angerufen und angeschrieben, und wollte von ihnen wissen, warum sie uns, eine Redaktion, die sie als «antisemitisch» labeln wollten, unterstützen würde. Man hat von den Institutionen verlangt, sich von uns zu distanzieren oder sogar unsere Gelder zu streichen. Im Fall des Kantons Bern ist das tatsächlich passiert. Man hat verlangt, dass wir uns für unsere Berichterstattung zurücknehmen oder uns sogar dafür entschuldigen.
«Diese Organisationen, Behörden und Institutionen schauen nicht nur selbst weg, sondern sie raten uns, dasselbe zu tun.»
Das ist keine normale Situation, unter der Medienschaffende und Institutionen arbeiten können. Und wir merken, dass ein grosser Teil dieser Menschen diesem Druck nicht standhalten kann.
Deshalb kuschen Journalistinnen und Journalisten davor, Israels Apartheid zu benennen. Sie kuschen davor, die israelische Besatzungspolitik zu kritisieren – selbst angesichts Tausender toter Kinder. Sie kuschen davor, sich kritisch zu äussern, und machen stattdessen bei der Dehumanisierung von Palästinenser*innen mit.
Diese Organisationen, Behörden und Institutionen schauen nicht nur selbst weg, sondern sie raten uns, dasselbe zu tun:
«Das Thema ist ein Mienenfeld, da könnt ihr nur verlieren.»
«Momentan ist das alles so emotional, vielleicht könnt ihr ja später was sagen.»
«Jetzt einfach ducken und den Ball flachhalten, dann kommt es gut.»
«Seid nicht dumm, ihr werdet noch eure Redaktion verlieren.»
«Es gibt soooo viele andere Themen, über die ihr schreiben könnt, schreibt doch über etwas anderes.»
All das haben wir gehört.
«Danke für die Ratschläge, aber ihr dürft sie gern für euch behalten.»
Wir stellen hier die Frage, ob der Chefredaktor der NZZ, auch solche Ratschläge bekommen hat. Wurde ihm angesichts Dutzender antimuslimischer Artikel geraten: «Eric, es gibt sooo viele Themen, schreib doch mal über etwas anderes.» Wahrscheinlich nicht.
Mussten sich die Integrationsbeauftragten des Kantons Bern, die uns nun Gelder für ein Projekt gestrichen haben, das nichts mit dem Thema Palästina zu tun hat, auch anhören: «Bitte nicht übertreiben, jetzt einfach mal den Ball flach halten!» Wahrscheinlich nicht.
Anscheinend gibt man so Ratschläge nur Menschen, die auf das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser hinweisen. Ich sage: Danke für die Ratschläge, aber ihr dürft sie gern für euch behalten.
Denn wir werden nicht wegschauen, wenn vor unseren Augen ein Genozid angerichtet wird. Und wir werden nicht aufhören, Unrecht zu benennen. Sei es das Unrecht, das Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus angetan wurde. Oder sei es das Unrecht, das Palästinenser*innen seit über 75 Jahren erleben, ein Unrecht, das im vergangenen Monat eine noch nie dagewesene und unvorstellbare Brutalität erreicht hat.
Wir werden keine Kompliz*innen sein, wenn es darum geht, das unvorstellbare Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, inkl. ethnischer Säuberungen, zu vertuschen.»
Wir werden nicht aufhören zu benennen, dass Israel ein Apartheidstaat ist, der sehr, sehr weit davon entfernt ist, eine Demokratie zu sein – auch wenn uns das unsere Politiker*innen und die Öffentlichkeit immer wieder glauben machen wollen. Und wir werden ganz sicher keine Kompliz*innen sein, wenn es darum geht, das unvorstellbare Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, inkl. ethnischer Säuberungen, zu vertuschen.
Stattdessen werden wir unsere Aufgabe als Menschen und Journalist*innen wahrnehmen, gerade in Momenten, in denen es schwierig ist, und wir werden hinschauen und sprechen, anstatt uns bedrohen und Angst machen zu lassen. Denn genau das ist das Ziel dieser Kräfte.
Eine Leserin war neulich frustriert über einen wieder mal einseitigen Artikel, der die Palästinenser*innen dehumanisierte. Sie schrieb uns in einer Nachricht: «Ich konsumiere keine Medien mehr. Ich habe alle Medien-Apps gelöscht. Die sollen merken, dass wir nicht auf ihre «News» angewiesen sind. Wir haben das Internet und das nutzen wir auch. They fucked with the wrong Generation!»
«Jedes Medium hat die Klientele, die es verdient.»
Vor einigen Monaten hätte ich diese Aussage als problematisch empfunden. Nun sage ich: Jedes Medium hat die Klientele, die es verdient. Wenn ihr euch in einem Medium nicht wiederfindet, wenn ihr eure Anliegen, Sorgen, Meinungen darin nicht wiederfindet, dann hat dieses Medium eure Aufmerksamkeit, eure Klicks und damit auch euer Geld nicht verdient.
Ich habe nun viel über den Mediendiskurs gesprochen. Und dafür möchte ich mich bei euch allen, insbesondere aber bei den Palästinenserinnen und Palästinensern in Gaza und der Westbank, entschuldigen. Denn während wir hier über den Diskurs diskutieren, wird der Gaza-Streifen auf grauenhafte Weise ausgehungert und ausgedurstet. Menschen haben keinen Strom und keine medizinische Versorgung. Brandwunden tausender Kinder können nicht abgespült, gereinigt oder behandelt werden.
«Während wir hier über den Diskurs diskutieren, wird der Gaza-Streifen auf grauenhafte Weise ausgehungert und ausgedurstet.»
Und während wir hier über Tamedia und die NZZ sprechen, werden Spitäler, Schulen und Flüchtlingslager zerbombt. Es ist wichtig, dass wir uns dem medialen Diskurs bewusst sind, um ihn kritisch zu hinterfragen und nicht auf die Propaganda reinzufallen, die momentan betrieben wird. Nichtsdestotrotz handelt es sich um Ablenkungsmanöver, die von der tatsächlichen Tragödie in Gaza und der Westbank ablenken.
Ich bitte euch, nun den Fokus wieder auf die Geschehnisse in Palästina zu richten. Lasst nicht zu, dass wir uns an den Genozid gewöhnen. Werdet nicht müde, bei Kundgebungen eure Stimmen zu erheben. Klärt eure Freunde, Verwandten und Mitarbeiter*innen über die Geschehnisse in Palästina auf. Fordert einen sofortigen Stopp der Bombardements. Fordert einen Boycott israelischer Produkte sowie politische Sanktionen gegen Israel. Und darüber hinaus müssen wir nun endlich, nach 75 Jahren, langfristige politische Lösungen für ein freies Palästina finden.
ist Gründerin und Chefredaktorin des Online-Magazins baba news.