Die Kuffiyah wird auf unseren Strassen nicht nur an propalästinensischen Demos getragen. Doch was hat es mit dem schwarzweissen «Arafat-Tuch» auf sich? Gastarbeiter Moritz Haegi wirft einen Blick in dessen Geschichte.
Am Abend des 25. Novembers 2023 spazierten drei palästinensisch-stämmige US-Studenten durch das Städtchen Burlington im Bundesstaat Vermont. Die drei 20-Jährigen unterhielten sich in einem Gemisch aus Englisch und Arabisch. Zwei von ihnen trugen eine Kuffiyah – auch bekannt als Arafat- oder Palästinenser-Tuch – um den Hals. Plötzlich feuerte ein 48-jähriger weisser Amerikaner ohne Vorwarnung vier Pistolenkugeln auf die drei Männer ab. Die Schüsse trafen die Studenten an der Wirbelsäule, der Brust und dem Gesäss. Alle überlebten, aber einer von ihnen, Hischam Awartani, ein herausragender Mathematik-Student an der renommierten Brown University, ist seither von der Brust abwärts gelähmt.
Warum schoss der Täter auf drei junge Männer, die er nicht kannte? Die Polizei ermittelt ein halbes Jahr später immer noch wegen eines möglichen Hassverbrechens. Die Nichtregierungsorganisation «American-Arab Anti-Discrimination Committee» geht davon aus, dass die Opfer aufgrund ihrer Ethnie, ihrer Sprache und ihrer Kuffiyah-Tüchern Zielscheibe eines rassistisch motivierten Verbrechens wurden.
In einer Zeit, in der antiarabische/-palästinensische und antisemitische Übergriffe rasant zunehmen, müssen antirassistische Kreise diesen Tendenzen nicht nur entschlossen entgegentreten, sondern auch ohne Voreingenommenheit aufklären. Symbolisch aufgeladene Kleidungsstücke wie die Kuffiyah müssen entmystifiziert und in einen differenzierten Kontext eingebettet werden. Wenn weite Teile der Gesellschaft diese nämlich als «Intifada-Schals» diffamieren, und Berliner Schulen sie gänzlich verbieten, stärkt das letztlich nur reaktionäre Kräfte auf allen Seiten.
Die Geschichte der Kuffiyah
Die Kuffiyah (كوفية – Aussprache: Kuffiyyah/Keffiyeh; variiert je nach Dialekt) ist ein quadratisches Baumwolltuch mit Wollverzierungen, das in der arabischen Welt entweder als Kopfbedeckung oder als Schal getragen wird. Der Name geht auf die Stadt Kufa im heutigen Irak zurück, wo das Tuch bereits im 7. Jahrhundert n. Chr. von Beduinen und sesshaften Bauern getragen wurde. Von Kufa aus verbreitete sich die Kuffiyah via Handels- und Beduinenrouten über den gesamten Nahen Osten. Sie stiess vor allem aufgrund ihres wirksamen Schutzes gegen Sonne, Wind und Sand auf grosse Beliebtheit.
Über die Jahrhunderte hinweg entwickelten sich unzählige regionale Varianten der Kuffiyah, die zwar meist weiss als Grundfarbe beibehielten, sich aber farblich und gestalterisch voneinander zu unterscheiden begannen: In Saudi-Arabien und den Golfstaaten ist sie traditionell vollständig weiss, im Irak weiss-rot und in Palästina weiss-schwarz. Das Muster auf der palästinensischen Kuffiyah symbolisiert zudem zentrale Aspekte des Landes: In der Mitte das Fischernetz für die Verbundenheit mit dem Meer; am Rand die Olivenblätter, als Zeichen für die wirtschaftliche Bedeutung der Olive; und dazwischen dicke, gerade Linien für die durch Palästina verlaufenden Handelsrouten. So viel zur Gestaltung und Herkunft der Kuffiyah. Wie aber wurde aus ihr ein Politikum, das im Rahmen des Nahostkonflikts weit über den Nahen Osten hinaus polarisiert?
Politische Bedeutung
Bis in die 1930er-Jahre hatte die Kuffiyah praktisch keine politische Bedeutung. Während der osmanischen Herrschaft und dem ersten Jahrzehnt der britischen Mandatsverwaltung Palästinas wurde sie fast ausschliesslich von ländlichen Bauern und Beduinen getragen. Die städtische Bevölkerung bevorzugte als Kopfbedeckung derweil den osmanischen Fes, auf Arabisch auch bekannt als Tarbusch. Dies änderte sich während der arabischen Revolte (1936–1939), in der sich die arabische Bevölkerung Palästinas gegen die britische Herrschaft und den zionistischen Jischuw – den israelischen Proto-Staat – auflehnte.
Der Grossteil des bewaffneten Widerstands spielte sich damals in den Dörfern ab. Dort diente die Kuffiyah den Aufständischen zum Schutz ihrer Identität, wodurch sie jedoch auch zur Zielscheibe der Repression wurde. Als Reaktion darauf ermutigte die Führung des Aufstands die städtische Bevölkerung dazu, sich ebenfalls mit der Kuffiyah zu kleiden, um Solidarität zu bekunden und den britischen Behörden die Unterscheidung zwischen Aufständischen und Zivilist*innen zu erschweren.
Die britische Armee schlug den Aufstand mit Hilfe von zionistischen Paramilitärs gewaltvoll nieder – rund zehn Prozent aller männlichen palästinensischen Araber im wehrfähigen Alter wurden getötet, interniert oder ins Exil gedrängt. Dies hatte weitreichende Folgen für deren Wehrfähigkeit im Palästinakrieg ein Jahrzehnt später.
Der «Arafat-Schal»
Nach der Staatsgründung Israels und der damit einhergehenden Nakba verschwand die Kuffiyah für zwei Jahrzehnte aus dem Rampenlicht. Erst Ende der 60er-Jahre erlangte sie durch den Anführer der palästinensischen Widerstandsbewegung Fatah, Yassir Arafat, weltweite Bekanntheit. Arafat trug die Kuffiyah bei allen öffentlichen Auftritten und machte sie damit zu seinem Markenzeichen. Daher kommt auch die im deutschsprachigen Raum verbreitete Bezeichnung Arafat-Schal.
Nach wie vor hält sich unter Palästinenser*innen hartnäckig die Legende, dass Arafat seine Kuffiyah auf dem Kopf absichtlich in der Form des Felsendoms in Jerusalem band, und sie auf der Seite als Dreieck herunterhängen liess, um die Umrisse des Mandatsgebiet Palästinas, welches die Palestinian Liberation Organization (PLO) bis 1988 gesamthaft beanspruchte, zu symbolisieren. Diese Theorie wird von Historiker*innen jedoch stark angezweifelt. Ebenfalls in den späten 60er-Jahren ging zudem ein Foto der PFLP-Kämpferin[1] Leila Khaled um die Welt, auf dem sie mit Kuffiyah und AK-47 zu sehen war. Khaled war 1969 und 1970 an zwei Flugzeugentführungen ohne Todesfolgen beteiligt, wurde von Grossbritannien aber noch im selben Jahr im Rahmen eines Gefangenenaustausches freigelassen. Nach Khaleds berühmt gewordenen Foto begannen auch Frauen häufiger, die Kuffiyah zu tragen.
Die Kuffiyah im Westen
Im Zuge der ausserparlamentarischen Studentenproteste von 1968 verbreitete sich die Kuffiyah auch im Westen. Mit dem sogenannten Palästinenser- oder Arafat-Tuch wollten Anhänger*innen der 68er-Bewegung einerseits ihre Solidarität mit den Palästinenser*innen kundtun und andererseits ihre Zugehörigkeit zur anti-imperialistischen Strömung innerhalb der alternativen Linken zum Ausdruck bringen.
Im weiteren Sinne ging es vielen damals um die grundsätzliche Kritik an der als imperialistisch wahrgenommenen Politik des westlichen Blocks im Kalten Krieg, welche sich in erster Linie als Widerstand gegenüber dem Vietnamkrieg manifestierte. Gleichzeitig entwickelte sich vor dem Hintergrund der arabisch-israelischen Kriege von 1967 (Sechstagekrieg, Junikrieg oder Naksa) und 1973 (Jom-Kippur-Krieg oder Oktoberkrieg) das militärische und strategische Bündnis zwischen Israel und den USA, welches Israel endgültig in den westlichen Block platzierte.
Während die Kuffiyah ab den späten 60er-Jahren vor allem bei europäischen Linken Anklang fand, erreichte sie mit dem Ausbruch der ersten Intifada in den späten 80ern auch die USA. Zusätzliche Bekanntheit erlangte sie dann Mitte der 90er-Jahre, als der geschichtsträchtige Handschlag zwischen dem israelischen Premierminister Rabin und PLO-Führer Arafat auf dem Rasen des Weissen Hauses um die Welt ging.
Im Verlauf des später gescheiterten Osloer Friedensprozesses assoziierte man die Kuffiyah zunehmend mit dem Verlangen nach einem gerechten Frieden zwischen Israelis und Palästinenser*innen. Durch ihre Globalisierung wurde die Kuffiyah in den 2000er-Jahren jedoch auch stark kommerzialisiert und verlor als Modeartikel stetig an politischer Bedeutung. In den letzten Jahren verschwand sie dann immer mehr aus westlichen Städten, ehe sie nach dem Ausbruch des jüngsten Kriegs zwischen Israel und der Hamas ein Revival erlebte. Inmitten des momentan äusserst aufgeladenen und weitgehend undifferenzierten Diskurses zu Israel-Palästina geraten Träger*innen der Kuffiyah besonders im deutschsprachigen Raum vermehrt in die Kritik.
Heutige Bedeutung der Kuffiyah
Was bedeutet die Kuffiyah also heute? Ist sie ein implizit antisemitisches Symbol oder steht sie für ein inklusives und gleichberechtigtes Zusammenleben zwischen Jordan und Mittelmeer? Der Vorwurf, die Kuffiyah sei ein antisemitisches Symbol, dient wohl eher der Diskreditierung jener, die sich mit Palästina solidarisch zeigen, als dass er einen inhaltlich wertvollen Beitrag zur Bewertung derer komplexen Geschichte darstellt. Wie in den vorherigen Abschnitten dargelegt, verfügt die Kuffiyah über eine komplexe Geschichte. Dieser Komplexität muss Rechnung getragen werden, insbesondere angesichts der gegenwärtigen Polarisierung im Diskurs zu Israel-Palästina.
Entsprechend gilt es einige Dinge festzuhalten: Sich mit den unter israelischer Besatzung lebenden Palästinenser*innen in Gaza, dem Westjordanland und Ostjerusalem zu solidarisieren, steht im Einklang mit dem Völkerrecht. Dies als Antisemitismus zu deuten, stellt eine äusserst fragwürdige Gleichsetzung von Judentum und der israelischen Besatzungspolitik seit 1967 dar. Gleichzeitig sollten Träger*innen der Kuffiyah jedoch auch anerkennen, dass die Kuffiyah nicht von allen Menschen gleich wahrgenommen wird.
Mit dem Versuch, die Kuffiyah differenziert zu betrachten, und deren Komplexität damit in einen längst überfälligen Dialog einzubetten, können Vorurteile ab- und gegenseitiger Respekt aufgebaut werden. Eine offene Gesellschaft, die sich Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit auf die Fahne schreibt, muss diese Komplexität aushalten können.
[1] Innerhalb der PLO, dem Dachverband des palästinensischen Widerstands, gab es zwei dominante Gruppierungen: Die von Arafat gegründete Fatah (Bewegung für die nationale Befreiung Palästinas) und die marxistische Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP), welcher Khaled angehört. Die islamistische Hamas gehört nicht zur PLO.
Moritz Haegi ist Doktorand am Seminar für Nahoststudien der Universität Basel und lebt zurzeit zwischen Jerusalem und dem Westjordanland. Seine Forschung behandelt die Auswirkungen des gescheiterten Osloer Prozesses und des israelischen Siedlerkolonialismus auf die Lebensrealitäten im besetzten Westjordanland. Haegi arbeitete in der Vergangenheit für das EDA und das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte. In der Schweizer Rapszene ist er als MzumO bekannt.
Sehr interessanter Artikel, ich habe viel gelernt und werde ihn mit Freunden teilen.