Uğur Gültekin kam als Flüchtlingskind in die Schweiz. Im Interview spricht der Journalist und Moderator über politische Teilhabe, Kampf um Zugehörigkeit und Solidarität.
Uğur Gültekin, die Stimmen der Migranten in den Medien und der Öffentlichkeit werden lauter. Organisationen oder Vereine wie das Institut neue Schweiz (INES) entstehen. Was darf man sich darunter vorstellen und was ist das Ziel solcher Organisationen?
Uğur Gültekin (34) ist Mitglied der Institutsleitung Neue Schweiz (INES), einen postmigrantischen Think & Act Tank, der allen Menschen offen steht und Vernetzung sowie Expertise bietet.
INES will eine neue Perspektive und Story für die Schweiz etablieren, bei der sich die Schweiz ehrlich mit ihren Realitäten auseinandersetzt. Bisher wurde die Migrationsgeschichte der Schweiz immer wie folgt erzählt: Wir klopfen an das Haus namens Schweiz an und fragen, ob wir reinkommen dürfen. Je nachdem, wer vor der Türe steht, dürfen wir rein oder auch nicht. Wir sind somit immer von anderen abhängig. Mit Selbstbestimmtheit hat dies wenig zu tun. Diese Geschichte ist jedoch veraltet. Denn eigentlich sitzen wir bereits mitten im Wohnzimmer mit allen anderen Bewohnern. Wir sind ein Teil der Wohngemeinschaft und wollen mitbestimmen, was für Bilder an die Wand kommen, was wir zusammen kochen und wie wir die Haushaltskasse regeln. Diese Geschichte steht sinnbildlich für INES.
«Wir sitzen im Wohnzimmer mit allen anderen Bewohnern.»
Aus welchem Bedürfnis heraus ist INES entstanden?
Die einzelnen Gründungsmitglieder hatten in verschiedenen Formen bereits ihre eigenen aktivistischen Kämpfe ausgetragen. Das Bedürfnis an Austausch war gross. Eine kleine Ausgangsgruppe schloss sich daraufhin zusammen; nach und nach kamen weitere Personen dazu und der Kreis weitete sich aus. INES hat das Rad aber nicht neu erfunden, denn einzelne Vereine oder Organisationen gab es natürlich schon vorher. Dabei sieht sich aber INES nicht als eine Art Dachorganisation oder ein Sprachrohr der Migranten, denn das sind alles Begriffe aus einer Logik, die ein «wir und die Anderen» schafft. INES will die oben erwähnte neue Story etablieren, die sagt: «Die Schweiz ist eine Willensnation. Es soll jeder Mensch mitmachen dürfen, der will.»
Dann ist INES eine politische Organisation?
Jeder Eingriff in die Gesellschaft und auf die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche wirkt sich auch immer politisch aus. INES versteht sich selbst aber nicht als eine politische Organisation. Was wir fordern, ist gesellschaftlicher Wandel. Dass dieser Wandel politische Auswirkungen hat, davon kann man nicht absehen. INES ist ein Versuch, die Zukunft in eine Richtung zu lenken, die der Realität des Landes entspricht. Wir sagen ganz einfach: «Schau in den Spiegel, liebe Helvetia, Migration ist Teil deiner Realität. Magst du damit in Frieden leben?» Die Annahme dieser Realität ist selbstverständlich mit politischen Veränderungen verbunden.
Du sprichst vor allem von Menschen mit Migrationserfahrung. Bedeutet ein Zusammenschluss von Minderheiten aber nicht auch ein Ausschluss der Mehrheitsgesellschaft?
Bei INES mitmachen darf jeder. Es gibt auch keine Quote für Schweizer ohne Migrationsvordergrund. Allerdings ist es uns ein Anliegen, dass ein Grossteil der Personen, die mitwirken, eine Migrationserfahrung in ihrem Leben gemacht hat. Dabei ist es egal, ob es sich um eine Fluchterfahrung handelt oder ob die Dominanzgesellschaft sie als anders abgestempelt hat.
Ich kann mich an einen Event von INES erinnern, an dem ich ein interessantes Erlebnis mit meiner besten Freundin hatte, einer «Bioschweizerin», sofern es das überhaupt gibt. Sie hat ein vielfältiges Umfeld und achtet bei Menschen nicht primär auf die Herkunft. Auf dem Nachhauseweg erzählte sie mir, dass sie sich beim Event als Schweizerin ausgegrenzt und auch schuldig gefühlt habe. Für ganze 15 Minuten hatte sie simuliert gekriegt, was ich einen grossen Teil meines Lebens erfahren habe: Ausgrenzung.
Meiner Meinung nach gab es für sie keinen Grund, sich so zu fühlen. Denn wenn wir bedenken, dass rund 25 Prozent der Bevölkerung in dieser direkten Demokratie in keiner Form mitreden darf, ist das ein viel tiefgreifender und widerlicher Fakt, als 15 Minuten, in denen sich eine «Bioschweizerin» an einer öffentlichen Veranstaltung diskriminiert fühlte, an der sie doch auch Zugang hatte. Vergessen dürfen wir aber auch jene nicht, die trotz ihres Schweizerpasses Rassismuserfahrungen durchleben. Diejenigen werden nicht als «Bioschweizer» wahrgenommen. Deswegen denke ich, dass Empathie der Schlüssel für gesellschaftlichen Wandel ist. Vielleicht waren diese 15 Minuten für meine beste Freundin ein kurzes Eintauchen in die alltägliche Realität ganz vieler Menschen in diesem Land.
Wieso sind Migranten in der Öffentlichkeit überhaupt unterrepräsentiert? Haben sie Angst vor der Angreifbarkeit 615–544-7289 , wenn sie an die Öffentlichkeit gehen?
Unter anderem. Ich selbst habe eine negative Erfahrung mit einer Produktionsfirma gemacht. Diese fragte mich für ein neues TV-Format an. Nach der üblichen Vorstellungsprozedur erhielt ich eine schriftliche Absage, die lautete: «Der ist doch Türke. Den können wir nicht bringen, bei all den SVP-Wählern auf dem Land.» Für mich war diese Absage unfassbar, und ich entschloss mich dazu, sie ins Internet zu stellen. Damit habe ich mich natürlich angreifbar gemacht, obwohl ich in meinem privaten Umfeld auf viel Unterstützung stiess. Insbesondere die Hasskommentare unter den Artikeln dazu konnte ich mir irgendwann nicht mehr ansehen. Trotzdem dürfen wir solche Dinge nicht kleinreden. Ungerechtigkeiten müssen zur Sprache gebracht werden und Punkt. Mir ist bewusst, dass ich in einer privilegierten Situation stecke, deswegen wäre es falsch gewesen, wenn ich geschwiegen hätte.
«Der ist doch Türke. Den können wir nicht bringen, bei all den SVP-Wählern auf dem Land.»
Hattest du Angst, nach der Veröffentlichung keine Jobangebote mehr zu bekommen?
Auch, aber das verflog schnell, was sicherlich mit meinem Charakter zu tun hat. Ich habe nichts bereut von dem, was ich gemacht habe. Sollte ich erneut so etwas erleben, würde ich es wieder öffentlich thematisieren. Wenn dies mit sich bringt, dass sich jemand von mir abwendet, dann soll es so sein. Ich biete auch anderen Menschen Unterstützung an, die ihre Rechte einfordern. Es geht ja nicht darum, die Konfrontation zu suchen, sondern darum klar zu machen, dass Alltagsrassismus keinen Platz hat.
Inwiefern siehst du dich als Vorbild für die jüngere Generation?
Wir alle müssen unsere Verantwortung wahrnehmen. Je mehr Leute sich trauen, für sich und ihre Rechte einzugestehen, desto mehr Veränderungen in der Gesellschaft gibt es. Da ich viel in der Hip-Hop-Szene unterwegs bin, stehe ich vielen Jugendlichen mit Rat zur Seite. Neulich kam ein Lehrling auf mich zu und fragte, ob sein Chef ihn Bimbo nennen dürfe. Manchmal erleben sie in ihren Betrieben Rassismus, können diesen aber nicht benennen oder ihn richtig einordnen.
Hinzu kommt, dass viele dieser Jugendlichen ja meist Schweizer sind, in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Ein Vorbild zu sein bedeutet aber auch, dass man ihnen zeigt, dass ein Leben in Hass nicht schön ist. Menschen, die Rassismus und Hass im Herzen tragen, haben kein schönes Leben. Wir können diesen Menschen im Grunde genommen nur Liebe geben. Und dies sage ich bewusst mit einer politischen Haltung, die für die eigenen Rechte einsteht und sie kompromisslos einfordert, aber nicht getrieben ist von Hass. Das ist nicht immer einfach – auch ich habe Momente in meinem Leben, in denen meine Verletzungen und Ängste in Form von Wut und Hass zum Vorschein kommen. Weitergebracht hat Hass mich aber nie.
«Menschen, die Rassismus und Hass im Herzen tragen, haben kein schönes Leben.»
Was hältst du vom Vorwurf, dass es für dich viel einfacher ist so zu handeln. Schliesslich hast du dir einen Namen gemacht, bist gebildet, kommst aus einer sozialen Schicht, die sich so etwas erlauben kann.
Ich und viele andere bei INES kommen direkt aus der Arbeiterklasse. Sollen wir wieder absteigen, um bemächtigt zu sein das Wort zu ergreifen? Muss man schlecht ausgebildet zu sein, um politisch aktiv zu sein und etwas zu bewegen? Ich verstehe dieses Argument nicht. Wir haben viele Schwierigkeiten durchgemacht und sind nun endlich dort angekommen, wo wir es verdienen, und nun will man uns dies wieder aberkennen. So im Sinne: Das sind doch alles Akademiker, die wissen nicht, was Migranten möchten.
Ich selbst bin mit meiner Familie zu viert in einer 2,5‑Zimmerwohnung aufgewachsen. Bin ein Flüchtlingskind, habe viel Ausgrenzung erlebt, habe mir alles selbst erkämpft. Und jetzt sollen wir plötzlich zu wenig «street» sein, um unsere eigenen Leute zu repräsentieren? Das stimmt nicht. Jeder Einzelne von uns hat Eltern, die geholfen haben, dieses Land aufzubauen, ob als Bauarbeiter, als Ingenieurin bei der ETH, als Betreiberin eines Gewerbes oder als Lehrer. Und wir alle teilen die Erfahrung, kein gleichberechtigter Teil dieses Landes zu sein. Deshalb sind wir genau die Richtigen, um den Wandel herbeizuführen, beziehungsweise um ihn anzustossen.
Du sprichst von der Solidarität der Migranten untereinander. Warum ist diese notwendig?
Migrantische Kämpfe um Rechte und Teilhabe gibt es nicht erst seit heute. Damit ein neues Narrativ der Schweiz etabliert werden kann, und wir eben nicht mehr von Schweizern und Ausländern sprechen, braucht es eine Verknüpfung dieser zeitlich versetzten Kämpfe, die aus unterschiedlichsten Perspektiven geführt wurden und werden. Eine neue Story kann nur dann entstehen, wenn der gemeinsame Kontext erkannt wird.
«Die Schweiz besteht nicht nur aus den drei Typen vom Rütlischwur.»
Organisationen wie INES bieten einen Ort für Vernetzung dieser Perspektiven. Das längerfristige Ziel ist es, dass die Schweiz ihre längst wahr gewordene Realität annimmt. Die Schweiz besteht nicht nur aus den drei Typen vom Rütlischwur. Sondern auch aus einem Uğur, einem Amos, einer Ana, einer Shpresa und vielen mehr. Der Schweizer von heute sieht anders aus als noch vor 50 Jahren. An der Unterrepräsentation in den Medien oder in der Politik sieht man jedoch, dass noch viel Arbeit vor uns liegt.
Wie sieht die Schweiz für dich in 20 Jahren aus?
Eine Prognose ist in diesen Zeiten sehr gewagt, obwohl die Schweiz ein sicherer Ort ist. Albert Einstein hat mal gesagt: «Im Falle eines Weltuntergangs wäre ich am liebsten in der Schweiz, dort geschieht alles etwas später.» So sehe ich das auch, hier geschieht alles viel langsamer. Was die Zukunft wirklich bringt, weiss ich nicht. Ich würde mir jedoch wünschen, dass die Schweiz ihre Multikulturalität nicht nur annimmt, sondern sie auch als Stärke sieht und lebt. Und zwar in einem schnelleren Tempo als von Einstein beschrieben.
Nun, ich bin Bioschweizer wie ihr sagen würdet. Was auch immer das bedeuten mag für euch. Denn für mich ist man Schweizer sobald mann das Schweizer Bürgerrecht erworben hat. Dies ist jedem offen, der eine längere Zeit hier gelebt hat, und sich in die Gesellschaft integriert hat. Im Ernstfall kann mann dies auch gerichtlich erstreiten, sollte eine Gemeinde dies aus fadenscheinigen Gründen nicht anerkennen wollen. Der Wille Schweizer zu werden muss aber schon vorhanden sein wenn mann sich Politisch mit Engagieren will. Mit allen damit verbundenen Rechten aber auch Pflichten.
Rassismus ist nun mal teil jeder Gesellschaft, als Ausländer diese Erfahrung zu machen, ist sicherlich nicht schön. Aber diese habt ihr in eurer Heimat sicherlich auch schon erlebt. Es ist also nicht ein Problem, das die Schweiz an sich betrifft. Ich weiss nicht, ob es einfacher ist, damit klar zu kommen, wenn mann nichts dafür kann, oder ob man wegen seiner politischen Haltung und seiner Meinung ausgegrenzt wird. Ich mache diese Erfahrung jeweils auch fast täglich. Nicht weil ich äusserlich anders bin, woran mich keine Schuld treffen würde, sondern weil ich Systemkritiker bin. Ich werde also ausgegrenzt, weil ich meine Überzeugung vertrete. Und da sind wir am Punkt. Was ändert sich am System, wenn ihr euer Ziel erreicht habt? Sehen Sie, damit ist kein Problem gelöst. Es ist doch so, dass fast jeder Immigrant durch eine Fluchtursache zu uns kommt. Es gibt natürlich einige Ausnahmen, die wegen der Liebe oder aus komplett freien Stücken in die Schweiz kommen. Die sprecht ihr aber nicht an, also tue ich dies hier auch nicht. Der Rest kommt wegen Kriegen oder aus wirtschaftlichen Gründen. Beide haben ihren Ursprung an einem Ort, den ihr nicht ansprecht. Und das ist unsere Wirtschaftsordnung. Nicht nur die der Schweiz sondern die globale Wirtschaftsordnung! Ein Afrikaner würde nicht hierher flüchten, wenn es ihm in seinem Land gut gehen würde. Ein Syrer käme nicht zu uns, wenn dort nicht Krieg wäre. Portugiesen, Deutsche etc. kämen nicht zu uns, wenn ihre Wirtschaft sie ernähren und ihnen ein anständiges Leben in ihren Ländern ermöglichen würde. Die Globalisierung ist nichts Weiteres als ein Neokolonialismus. Es ist Rassismus neu verpackt in einer Multikulti-Gesellschaft. Den mächtigen Eliten ist es egal, ob jemand schwarz, Türke oder Schweizer ist. Für diese sind wir alle gleich, nämlich Sklaven.
“Freiheit in den kapitalistischen Gesellschaften ist nach wie vor, mehr oder weniger, das, was es auch in den antiken griechischen Demokratien war: Freiheit für die Eigentümer von Sklaven.” — Wladimir Iljitsch Lenin
Daran hat sich auch 100 Jahre später nichts geändert. Nur die Methoden haben sich, wie im Kapitalismus üblich, zu Effizienzsteigerung optimiert. Daran haben auch der Feminismus oder die 68-Bewegung nichts geändert. Die Frau wird nie frei sein, solange das Individuum an sich nicht frei ist. Ein Schweizer Arbeiter ist genauso Sklave der besitzenden Klasse wie ein Ausländer. Der Klassenkampf ist, was wir wieder in den Vordergrund setzten müssen. Ansonsten kämpft ihr nur dafür, in der Hierarchie der Sklaven etwas weiter nach oben zu kommen. Daran, dass wir alle Sklaven einer Minderheit der reichsten paar Prozent bleiben, ändert das nichts. Anstatt die Unterschiede zu propagieren, sollte man besser darauf aufmerksam machen, was uns alles vereint. Der Kampf um soziale Gerechtigkeit.