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Die Schweizer Medien und Israel

Die Berichterstattung zu Israel und Palästina ist in den Schweizer Medien stark geprägt von pro-israelischen Erklärungsmustern. Palästinensische Stimmen gehen oft verloren, palästinensische Opfer werden dehumanisiert. Doch woher kommt diese Einseitigkeit? Wie werden Schweizer Medien durch pro-israelische Stimmen beeinflusst? Und was sagen Journalist*innen dazu? Ein Einblick in die Schweizer Medienwelt.

Knapp 300 deutsche Journalist*innen haben im September einen offenen Brief unter­zeichnet, in welchem sie eine ausge­wo­genere Bericht­erstattung zu Palästina/Israel, den Zugang nach Gaza und den Schutz von Journalist*innen verlangen. Vertreten waren auch Journalist*innen grosser deutscher Medien­häuser wie die Süddeutsche Zeitung, die Frank­furter Rundschau, der Tages­spiegel, der Spiegel, Stern, Arte, die Frank­furter Allge­meine, NDR, ARD, RTL, ZDF und die Zeit.

Schweizer Journalist*innen schlossen sich ihren deutschen Berufskolleg*innen rasch an. Ende September unter­schrieben über 80 Journalist*innen einen fast identi­schen offenen Brief. Auch in diesem sind Medien­schaf­fende aus grösseren Medien­häusern vertreten – darunter Blick, 20 Minuten, SRF, Beobachter, CH Media, Le Courrier, Republik und WOZ. Die Medien­schaf­fenden mahnen, dass viele Journalist*innen einge­schüchtert seien: «Sie wollen sich zum Thema Gaza am liebsten gar nicht äussern, weil sie befürchten, als Terror-Befürworter*innen oder Antisemit*innen diffa­miert zu werden.»

«Verstösse gegen das Völker­recht werden in der Bericht­erstattung ausge­blendet – oder sogar gerechtfertigt»

Obwohl es in Gaza Journalist*innen vor Ort gebe, würden Nachrich­ten­agen­turen wie die AFP und SDA immer wieder «ausschliesslich auf Infor­ma­tionen israe­li­scher Behörden zurück­greifen» – teils ohne jegliche Beweise. «Redak­tionen nutzen diese Angaben häufig unhin­ter­fragt und ohne den nötigen Kontext zur Verfügung zu stellen, damit Leser*innen die Infor­ma­tionen kritisch einordnen können», steht sowohl in dem deutschen wie auch dem Schweizer Brief.

Viele Redak­tionen würden sich zudem häufig «verein­fa­chenden oder einsei­tigen Erklä­rungs­mu­stern» bedienen, palästi­nen­sische Perspek­tiven kämen dabei zu selten vor. «Indem einige Schweizer Medien das Kriegs­ge­schehen stark einseitig darstellen, tragen sie zu einer Entmensch­li­chung der Zivil­be­völ­kerung in Gaza bei», heisst es in dem Brief. «Im schlimmsten Fall werden dadurch Verstösse gegen das Völker­recht, wie sie in Gaza seit Monaten breit dokumen­tiert worden sind, in der Bericht­erstattung ausge­blendet – oder sogar gerecht­fertigt.» Viele Medien­häuser würden so seit elf Monaten regel­mässig gegen die Sorgfalts­pflicht verstossen.

Das sagen die Journalist*innen 

Um einen Einblick hinter die Kulissen von Schweizer Medien­häusern zu bekommen, hat baba news mit insgesamt acht Schweizer Journalist*innen gesprochen. Sie arbeiten für Ringier, Tamedia, NZZ und CH Media. Da die Personen ihren Job riskieren, werden ihre Aussagen anonym behandelt.

«Es ist heftig zu sehen, wie man gecancelt wird, wenn man sich mit Palästina solida­ri­siert», sagt eine erste Quelle mit Bezug zu Tamedia. «Ich finde beispiels­weise die Hetzkam­pagne, die gegen baba news betrieben wurde, weil ihr Kritik am Staat Israel äussert, nicht in Ordnung». Die Gaza-Bericht­erstattung wirke auf sie «oft einseitig und klar pro-Israel». Dennoch traut sich die Person nicht, offen Kritik zu äussern. «Als jemand, der noch am Anfang seiner Journa­lis­mus­kar­riere steht, habe ich echt Angst um meine Existenz, die auf diesen Job angewiesen ist». Mit diesen Ängsten sei die Person aber nicht allein: «Auch Studienfreund*innen oder Kolleg*innen haben zwar eine klare Meinung zu dem Thema, trauen sich jedoch nicht, öffentlich darüber zu sprechen.» 

Eine zweite Person erzählt baba news, dass bei Tamedia bei der Bericht­erstattung zum Nahen Osten «immer der Satz eingefügt werden musste, dass die Hamas am 7. Oktober den Krieg angefangen hat» – und dies mit Adjek­tiven wie «schreck­liches» oder «schlimmstes» Massaker. Bei der Bericht­erstattung über Tote auf Seite der Palästinenser*innen wurden solche Adjektive eher wegge­lassen. «So kamen die Meldungen teilweise aber auch von den Nachrich­ten­agen­turen», betont die Quelle. Sie glaubt, dass im deutsch­spra­chigen Journa­lismus durch den Zweiten Weltkrieg und den Natio­nal­so­zia­lismus ganz grund­sätzlich eine Art Angst mitschwebe, als Antisemit zu gelten. Daher werde weniger Stellung bezogen als beispiels­weise in Frankreich. 

Bei vielen Zeitungen werde zudem vor allem das berichtet, «was gut klickt» – und das seien norma­ler­weise perso­na­li­sierte Artikel, die «am meisten Schrecken und Betrof­fenheit auslösen». Im Fall vom Gaza-Krieg seien es jedoch fast ausschliesslich die Angriffe auf jüdische Menschen, die «ausge­schlachtet werden». Weil Menschen aus dem arabi­schen Raum grund­sätzlich enthu­ma­ni­siert und Gewalt im arabi­schen Kontext «norma­li­siert» werde, würden Angriffe auf Spitäler oder Schulen von Seiten Israel oft angezweifelt und eher verharmlost. Dadurch werde «offen­sichtlich, dass der Konflikt nicht wirklich neutral beleuchtet wird».

«Es ist nicht immer klar, woher die Einsei­tigkeit kommt»

Auch eine Ringier-Quelle beklagt, dass die Bericht­erstattung alles andere als neutral sei. «Von dem, was ich so mitbe­kommen habe, wird schon von oben Druck auf die Journalist*innen ausgeübt», sagt die Quelle zu baba news. «Aber trotzdem ist nicht immer klar, woher die Einsei­tigkeit kommt. Viele haben auch einfach tatsächlich keine Ahnung von dem Thema oder zensieren sich selbst, aus Angst, gewisse Grenzen zu überschreiten.» Dabei spiele auch die Sorge mit, den Job zu verlieren.

Eine CH Media-Quelle sagt derweil: «Unsere Bericht­erstattung ist extrem einseitig und übernimmt weitgehend die typischen Argumente, die wir täglich von israe­li­schen Mediensprecher*innen oder Politiker*innen hören.» Dazu gehöre beispiels­weise das Argument, dass die Hamas die palästi­nen­sische Zivilist*innen als Schutz­schilde benutze. Oder auch die Wortwahl, dass israe­lische Angriffe sich stets auf «Ziele» oder «Terro­risten» richten würden. «Solche Argumente dienen dazu, den israe­li­schen Terror in Gaza zu verharm­losen, gar zu legiti­mieren. Dass das israe­lische Militär schon Dutzende unserer Arbeitskolleg*innen in Gaza getötet hat, scheint unser Medium nicht zu interessieren.» 

Dass die Bericht­erstattung so einseitig ausfällt, sei vor allem dem Chefre­daktor und Auslandschef geschuldet. «Es gibt schon auch Journalist*innen, die diffe­ren­zierter und mehr über das Leid in Gaza berichten möchten.» Aber dieje­nigen, die am Ende die Entscheidung treffen, halten gemäss der Quelle «lieber an ihrer pro-israe­li­schen Linie fest». 

NZZ-Chefre­daktor kontrol­liert Nahost-Artikel höchstpersönlich

Einen starken Einfluss scheint die Redak­ti­ons­leitung auch bei der NZZ zu haben. Eine NZZ-Quelle erzählt, dass es deshalb im Auslands­ressort immer wieder Spannungen geben würde. «Während ein grosser Teil der Redaktor*innen und Korrespondent*innen das Leid der Palästinenser*innen und das Unrecht der Besatzung sieht, fährt der Chefre­dakteur eine stramm pro-israe­lische Linie und behält vor allem die Meinungs­stücke genau im Blick, um sicher­zu­gehen, dass die Bericht­erstattung im Grossen und Ganzen seiner Linie entspricht.» Immer wieder hätten sich Kolleg*innen beklagt, dass sie «beim Nahost­kon­flikt nicht dieselbe Freiheit haben wie bei anderen Themen». 

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Dass Chefre­daktor Erich Gujer höchst­per­sönlich Artikel zum Thema Israel/Palästina durch­liest und Anpas­sungen fordert, bestä­tigen auch zwei weitere Quellen der NZZ. Mit Gujer an der Spitze habe sich die NZZ generell stark verändert, meint eine vierte Person. Sie betont, sein Einfluss auf die Bericht­erstattung betreffe dabei nicht nur die Bericht­erstattung zum Nahen Osten. «Als Gujer Chefre­daktor wurde, rutschte die NZZ immer mehr nach rechts. Unter diesem Druck wurden einige Journalist*innen entlassen, andere gingen von selbst. Es war ein richtiger Umschwung.»

Israel-Forum verbreitet Propaganda

Doch nicht nur grosse Medien­häuser verbreiten pro-israe­lische Inhalte. Mittler­weile gibt es mit «Fokus Israel» auch eine eigens dafür gegründete Plattform. Die 2024 entstandene Online-Plattform bezeichnet sich als «eine ehren­amtlich tätige, unabhängige Gruppierung aus der Schweiz», welche auf Initiative der Israe­li­ti­schen Cultus­ge­meinde Zürich (ICZ) und dem Schwei­ze­ri­schen Israe­li­ti­schen Gemein­debund (SIG) gegründet wurde.

Auffallend ist ein auf der Website veröf­fent­lichter Artikel über die Vereinten Nationen mit dem Titel: «UN: Vereint gegen Israel mit Unter­stützung der Schweiz». Laut dem namentlich nicht genannten Autor zeichne sich die Weltge­mein­schaft «seit Jahrzehnten durch eine massiv anti-israe­lische Haltung aus». Kriti­siert wird etwa, dass «kein anderer Staat der Welt von der UN häufiger wegen Menschen­rechts­ver­let­zungen angeprangert wurde als Israel». Offenbar stört sich der Autor weniger an den Menschen­rechts­ver­let­zungen selbst, als an der Tatsache, dass die Vereinten Nationen diese anprangern.

Weiter wird auf Fokus Israel behauptet: «Kaum Interesse zeigte die UN in der Vergan­genheit hingegen am Verhalten ihrer für die palästi­nen­si­schen Flücht­linge tätigen Mitar­beiter. Dies, obschon Unter­su­chungen ergeben haben, dass sowohl das UN-eigene Palästi­nenser-Flücht­lings­hilfswerk UNRWA als auch private für die Palästi­nenser tätige NGOs oft von Mitgliedern palästi­nen­si­scher Terror­or­ga­ni­sa­tionen unter­wandert sind, und von diesen hinter den Kulissen kontrol­liert werden.» 

Die mutmass­lichen «Unter­su­chungen» werden weder verlinkt noch genauer benannt. Fakt ist hingegen: Israel reichte für seine Terror-Anschul­di­gungen gegen das UN-Hilfswerk keine Beweise ein, wie ein unabhän­giges Unter­su­chungs­ko­mitee dieses Jahr mitteilte. Ferner kam das Komitee zu dem Schluss, dass es zwar einige Neutra­li­täts­pro­bleme innerhalb der UNRWA gebe – eine syste­ma­tische Infil­tration oder «Kontrolle» durch Terro­risten konnten jedoch nicht bewiesen werden.

In einem weiteren Artikel behauptet Fokus Israel: «Das entschei­dende Hemmnis auf dem Weg zu einer fried­lichen Koexi­stenz zwischen dem von der Uno 1947 beschlos­senen arabi­schen und jüdischen Staat sind die verschie­denen palästi­nen­si­schen und anderen arabi­schen Terror­or­ga­ni­sa­tionen, die das Existenz­recht Israels verneinen und Israel mit terro­ri­sti­schen Mitteln bekämpfen.» 

Im 2017 überar­bei­teten Charter der Hamas werden die von der UN in 1967 für eine Zweistaa­ten­lösung festge­legten Grenzen aller­dings akzep­tiert. Zudem erkannte die Palästi­nen­sische Autono­mie­be­hörde Israels Existenz­recht an – Israel hingegen weigert sich bis heute, den Staat Palästina anzuer­kennen, und erklärt statt­dessen von Jahr zu Jahr mehr illegal annek­tiertes Land zum israe­li­schen Staats­gebiet. Erst dieses Jahr stimmte die Knesset, Israels Parlament, zudem gegen die Anerkennung eines Palästi­nen­si­schen Staates – mit 68 zu 9 Stimmen.

Trotz der faktisch fragwür­digen Bericht­erstattung erklärt Fokus Israel auf Anfrage von baba news, man verstehe sich selbst zwar nicht als «neutral» – dafür aber als «fakten­ori­en­tiert». Mit Hinsicht auf den 7. Oktober sei Neutra­lität «für alle Menschen, die einen Funken Mensch­lichkeit in sich haben, undenkbar». Offenbar ist diese Mensch­lichkeit jedoch nicht universell, sondern selektiv. Mitleid für die über 42’000 getöteten Menschen in Gaza, die über 700 Getöteten im Westjor­danland und die über 2000 Toten im Libanon findet sich auf dem Forum nicht. 

Verant­wortlich für diese Tode macht das Forum auch nicht Israel. Auf Anfrage heisst es statt­dessen, «die feigen Hamas-Terro­risten» seien es, welche «völker­rechts­widrig die eigene Zivil­be­völ­kerung, Schulen und Spitäler in Gaza als Schutz­schilde für sich und ihre Waffen­ar­senale nutzen.» Daher sei es «einzig und allein Hamas, welche diese entsetzlich vielen Tausenden von zivilen Opfern auf palästi­nen­si­scher Seite zu verant­worten und auf dem Gewissen hat.» Dass Israels Bombar­dierung von dicht besie­delten Gebieten, Spitälern und Flücht­lings­un­ter­künften völker­rechts­widrig ist, selbst wenn sich dort einzelne Hamas-Kämpfer befinden sollten, inter­es­siert Fokus Israel offenbar nicht. 

Ehema­liger NZZ-Auslands­re­dakteur wirkt bei Propa­ganda-Forum mit

Hinter dem fragwür­digen Propa­ganda-Forum steht gemäss der Website ein fünfköp­figes Team. Namentlich genannt werden aber nur zwei Personen: Sacha Wigdo­rovits und Ulrich Schmid. Letzterer war 35 Jahre lang bei der NZZ angestellt, mitunter als Auslands­re­dakteur und Israel-Korre­spondent. Anfang 2023 diente er ab. Offenbar vertreibt er sich den Ruhestand seither mit der Israel-Plattform. Denn wie das Forum auf Anfrage mitteilt, überprüft er die Artikel des Forums vor deren Veröffentlichung. 

Ob Schmid auch während seiner Zeit bei der NZZ schon in ähnlich engem Kontakt mit israel­nahen Platt­formen stand, und dort dieselben ideolo­gi­schen Leitlinien verfolgte, ist unklar. Die NZZ gibt auf Anfrage an, dass alle Journalist*innen sich «nach den gesetz­lichen Vorgaben, den vertrag­lichen Regelungen sowie den geltenden Redak­ti­ons­sta­tuten und Standes­regeln» richten müssten. Zudem würden «Weisungen der jewei­ligen Redak­ti­ons­leitung» gelten, um die «journa­li­stische Unabhän­gigkeit» zu wahren und «Inter­es­sen­kon­flikte» zu vermeiden. 

Israe­lische Ex-Politi­kerin schreibt Artikel für NZZ und Fokus Israel

Schmid ist aber nicht der einzige Kontakt­punkt zwischen Fokus Israel und der NZZ. In einem Dossier der Plattform, wo verschiedene Schweizer Medien­be­richte zum Thema Israel/Palästina gesammelt und verlinkt wurden, sind knapp 70 NZZ-Artikel aufge­listet – das macht rund drei Viertel aller aufge­li­steten Artikel aus. Wigdo­rovits, der sich als Chefre­daktor der Plattform bezeichnet, betont auf Anfrage, dies sei darauf zurück­zu­führen, dass «die NZZ im gesamten deutsch­spra­chigen Raum die mit grossem Abstand umfas­sendste und beste Bericht­erstattung über dieses Thema hat». 

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Die NZZ und Fokus Israel lassen weiter dieselben pro-israe­li­schen Stimmen zu Wort kommen. Die ehemalige israe­lische Politi­kerin Eniat Wilf, welche auf der Israel-Platform einen Frage-Antwort-Artikel veröf­fent­lichte, beschreibt sich auf Instagram als «Zionistin, Feministin und Atheistin». Zudem verlinkt sie dort ihr Buch «Der Krieg der Rückkehr» sowie den Podcast «Wir sollten alle Zionisten sein». Zionismus ist eine politische Denkweise, die Ende des 19. Jahrhun­derts entstand. Jüdinnen und Juden haben demnach das Recht auf das Land vom histo­ri­schen Palästina, welches sie als ihr eigenes «Heimatland» sehen. Dieses Gedan­kengut ist einer der Grund­steine des israe­li­schen Staats und zielt auf einen ethnisch jüdischen Staat ab – u.A. auf palästi­nen­si­schem Land.

Am 27. August 2024 veröf­fent­lichte auch die NZZ einen Gastkom­mentar der Zionistin, wonach die «Auflösung der UNRWA der Schlüssel zum Frieden im Nahen Osten» sei. Das UN-Hilfswerk verwaltet den Flücht­lings­status von Palästinenser*innen, die bei der Staats­gründung Israels im Jahr 1948 vertrieben wurden. Ohne die UNRWA verfällt der Flücht­lings­status von Millionen von Palästinenser*innen – und somit das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat. Genau daher stammt wohl auch die Motivation von Wilf, gegen die UNRWA zu hetzen. Denn ein zentrales Ziel von Zionismus ist, die Rückkehr der Palästinenser*innen zu verhindern, um eine jüdische Mehrheit in Israel aufrecht­zu­er­halten. So wurde 2018 im «jüdischen Natio­nal­staats­gesetz» etwa festge­halten, dass das «Recht auf nationale Selbst­be­stimmung» in Israel «einzig­artig dem jüdischen Volk zusteht». Allen Jüdinnen und Juden weltweit steht zudem das Recht auf israe­lische Staats­an­ge­hö­rigkeit zu – Palästinenser*innen hingegen bekommen nur in seltenen Fällen die Staats­an­ge­hö­rigkeit, und dürfen nicht zurück in ihre Heimatorte kehren, aus denen sie 1948 vertrieben wurden.

Eine Gegen­stimme einer palästi­nen­si­schen Person gab es in dem Artikel nicht. Die NZZ recht­fertigt den Artikel gegenüber baba news damit, dass auch dem UNRWA-Chef Philippe Lazzarini die Chance auf einen Gastkom­mentar gegeben worden sei, dieser habe aller­dings abgelehnt. Weiter betont die NZZ: «Wir sind überzeugt, dass ein offener Diskurs nur möglich ist, wenn unter­schied­liche Positionen Gehör finden – solange diese nicht extrem oder gar extre­mi­stisch sind.» Offenbar hält die NZZ die zioni­sti­schen Ansichten Wilfs sowie die Forderung der Aberkennung vom Flücht­lings­status von Millionen von Menschen demnach für gemässigt. Auch dass die israe­lische Politi­kerin das Hilfswerk der Vereinten Nationen auf X als die «Infra­struktur des palästi­nen­si­schen Terro­rismus» bezeichnet, hält die NZZ anscheinend für gemässigt. 

20 Minuten-Gründer ist Chefre­daktor von Israel-Platform

Schmid und Wilf sind aller­dings nicht die einzigen Personen, die das Israel-Forum mit der Schweizer Medien­land­schaft verbinden. Noch bedeu­tender ist Wigdo­rovits, der angibt, die Texte auf Fokus Israel zusammen mit einer namentlich nicht genannten ehema­ligen Journa­listin zu verfassen. Er ist zudem derjenige, welcher das Forum «aus eigener Tasche» bezahlt. Das Forum habe er gegründet, um «eine Plattform zu schaffen, welche einen vertieften Einblick in die Geschichte und politische Entwicklung im Nahen Osten, aber auch in jene des Antise­mi­tismus gibt.» 

Wigdo­rovits war Ende der 1990-er Jahre Chefre­daktor des Blicks, hat 20 Minuten mitge­gründet, war US-Korre­spondent der Sonntags­Zeitung und Zürich-Redaktor beim Tages­an­zeiger. Ebenso betreibt er die Kommu­ni­ka­ti­ons­agentur «Contract Media». Gemäss eines Inter­views mit dem «Tagblatt» aus dem Jahr 2011 stammt Wigdo­rovits aus einer jüdischen Flücht­lings­fa­milie und hat Verwandte, die in Israel leben.

Zur Zeitung sagte der Unter­nehmer damals, zu viele Journalist*innen seien «anti-israe­lisch». Er wolle das «verzerrte und falsche Bild von Israel in der Öffent­lichkeit korri­gieren». Schon damals gründete er dazu die Stiftung  «Audiatur» mit einer gleich­na­migen Info-Website, die ähnlich wie Fokus Israel fungiert. Verdient habe Wigdo­rovits damit eigenen Aussagen zufolge nichts: «Ich engagiere mich hier als Schweizer für die Meinungs­bildung in der Schweiz», sagte er zur Zeitung. Bis heute werden auf Audiatur Kommentare und Berichte über den Nahen Osten aufge­schaltet. Doch auch ausserhalb der Plattform scheint die Stiftung Einfluss zu haben. Einer der Haupt-Autoren des pro-Israel Portals, Daniel Ricken­bacher, fungiert mitunter als «Nahost-Experte» bei 20 Minuten, als «Extre­mismus-Forscher» beim Tages­an­zeiger und als «Histo­riker» bei der Aargauer Zeitung. 

Wigdo­rovits hält Vortrag über Pläne für Israel-Lobby

Wigdo­rovits Pläne, den Israel/­Pa­lä­stina-Diskurs in der Schweiz zu beein­flussen, gehen aller­dings weit über die Foren Audiatur und Fokus Israel hinaus. In einem Vortrag vor der Handels­kammer Schweiz-Israel stellte der ehemalige Blick-Chefre­daktor im April 2011 im Detail vor, wie er die Schweizer Medienwelt beein­flussen wollte. Auf «Infosperber» wurde die dazuge­hörige Power­point-Präsen­tation veröffentlicht.

Zu Beginn der Präsen­tation schildert Wigdo­rovits die Stärken der Schweizer Medien­branche. Dazu gehört unter anderem, dass «weite Kreise sehr skeptisch gegenüber arabi­schen Staaten» seien. Zudem sei es eine Stärke, dass die «breite Bevöl­kerung ein Unbehagen gegenüber der Islami­sierung des Westens verspürt» und sich auf «westliche Werte besinnt». Auch «einzelne Schweizer Medien» betrachtet er als positiv – aufge­zählt werden hier der Blick und die Weltwoche. Gleicher­massen sei auch die SVP eine Stärke der Israel-Freunde: «Israel als westliches, demokra­ti­sches Land geniesst bei Bürger­lichen (SVP) Sympathien.» 

«Israel braucht eine aktive Lobby in Bern und gegenüber den Medien.»

Zu den Schwächen der Israel-Lobby zählen laut Wigdo­rovits Journalist*innen, die «tradi­tionell mehrheitlich links und deshalb anti-israe­li­sch/anti-zioni­stisch» seien. Zudem sei ein Problem, dass medial zu viel über «negative» Themen wie den illegalen Siedlungsbau berichtet werde – und dass «medial erfahrene (nicht-)jüdische Exponenten» fehlen, die «Israel vertei­digen». Weiter würde die «israel­feind­liche Politik vieler UN-Gremien» den Palästinenser*innen «zusätzlich Gewicht verleihen.» 

Ein weiteres Problem für Wigdo­rovits: Die ehema­ligen grünen Natio­nalräte Daniel Vischer und Geri Müller, mit denen die Palästinenser*innen laut Wigdo­rovits «starke Fürsprecher» hatten. Umso inter­es­santer ist hier, dass Wigdo­rovits aufgrund einer Nackt­selfie-Affäre, die Geri Müllers Polit-Karriere im Jahr 2014 beendete, vor Gericht stand.

Die Vorge­schichte hierzu: Der pro-palästi­nen­sische Natio­nalrat Geri Müller hatte damals einer Frau Nackt­fotos geschickt. Als er sich von ihr trennte, liess sie diese veröf­fent­lichen – was das Ende von Geri Müllers Polit­kar­riere bedeutete. Die Staats­an­walt­schaft warf Wigdo­rovits vor, die Frau zur Veröf­fent­li­chung der Bilder gedrängt zu haben. Wigdo­rovits wurde aller­dings des Vorwurfs freige­sprochen. So habe er die Frau zwar «mit Chefre­dak­toren in Kontakt gebracht und besprochen, wie Müller mit dem Bildma­terial zum Rücktritt gedrängt werden könnte», aller­dings habe er der Frau auch gesagt, «sie müsse selber wissen, was sie tun wolle» – was für einen Freispruch der Nötigungs-Vorwürfe reichte. 

Wegen Aufbe­wahrung und Kennt­nisgabe unbefugt aufge­nom­mener Gespräche wurde Wigdo­rovits dennoch zu einer bedingten 20’000 Franken Geldstrafe verdonnert. Zwischen Geri Müller und der AZ-Medien­gruppe kam es wegen der medialen Hetzkam­pagne zu einer Einigung. Müllers politische Karriere war dennoch vorbei.

Wigdo­rovits «Problem» mit Geri Müller hatte sich somit gelöst. In seinem Vortrag von 2011 machte Wigdo­rovits aber auch im Hinblick auf die restlichen «Probleme» Lösungs­vor­schläge. Er schrieb: «Israel braucht eine aktive Lobby in Bern und gegenüber den Medien. Dazu brauche es starke jüdische und nicht-jüdische Exponenten als Wortführer». Um diese pro-israe­li­schen Exponenten zu stärken und bekannt zu machen, schlug Wigdo­rovits Schulungen und Trainings für öffent­liche Auftritte vor. Zudem sollen sie «bei wichtigen Medien» einge­führt werden und ihren Bekannt­heitsgrad «durch Publi­ka­tionen, Referate und Inter­views» steigern.

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Weiter forderte Wigdo­rovits, das pro-israe­lische Netzwerk in Politik, Wirtschaft und Medien zu stärken. Für die «Inten­si­vierung der Bezie­hungs­pflege» schlägt der 20 Minuten-Gründer Treffen mit Bundespolitiker*innen zur «Vertrau­ens­bildung und Aufklärung» sowie «Besuche bei wichtigen Chefredaktor*innen und Auslands­re­dak­tionen» vor. Auch solle es Einzel­treffen mit «wichtigen Politiker*innen» sowie «Besuche der Bundeshaus-Fraktionen und Aussen­mi­ni­sterin», geben. Zudem plante der ehemalige Journalist «Orien­tie­rungs­ver­an­stal­tungen israe­li­scher Spitzen­ver­treter aus Politik, Militär und Wirtschaft» und «Auftritte bei öffent­lichen Veran­stal­tungen wie etwa der ARENA (SRF)».

Um der Bericht­erstattung gegen­zu­wirken, die nicht seinem Narrativ entspricht, fordert Wigdo­rovits ferner, «auf einseitige, anti-israe­lische Bericht­erstattung auf höchster Ebene zu reagieren». Diese Reaktionen sollten sowohl in schrift­licher als auch mündlicher Form erfolgen, und sich insbe­sondere an «Chefredaktor*innen und kritische Journalist*innen» richten. Er warnt: «In gewissen Fällen sind auch die Verleger einzuschalten.»

«In gewissen Fällen sind auch die Verleger einzuschalten.»

Das reicht aber offenbar nicht. Weiter sollten laut Wigdo­rovits «eigene Platt­formen» entwickelt werden, um die «Abhän­gigkeit der redak­tio­nellen Bericht­erstattung» zu reduzieren. Zudem brächte es ein «umfas­sendes Medien­mo­ni­toring – mit Unter­stützung der israe­li­schen Botschaft» und einen «Knowhow-Pool mit allen relevanten Fakten und News», der für «alle invol­vierten Kreise» zugänglich sei. Unter anderem schlägt Wigdo­rovits hierfür vor, eine Datenbank mit «allen wichtigen Medien­ver­tretern und Politikern» zu erstellen.

Zum Zeitpunkt seiner Präsen­tation hatte Wigdo­rovits bei 20 Minuten und Blick zwar schon längst ausge­dient. Dennoch zeigt die Präsen­tation, welch starke pro-israe­lische Haltungen er darin vertrat, und wie syste­ma­tisch er diese in den Schweizer Mainstream bringen wollte – und mit Hinblick auf seine hochran­gigen Positionen mögli­cher­weise auch schon früher in Schweizer Medien­häuser einge­bracht hatte. Dabei ist nicht auszu­schliessen, dass sein Einfluss bis zum Schweizer Fernsehen reichte. Wigdo­rovits langjährige Partnerin, Ingrid Deltenre, war dort zwischen 2004 und 2009 Chefin.

«Lobby­arbeit habe ich noch nie gemacht»

Trotz der detail­lierten Lobby-Pläne hält Wigdo­rovits sich nicht für einen Lobby­isten. Er betont: «Lobby­arbeit habe ich noch nie gemacht, da Medien­kom­mu­ni­kation und interne Kommu­ni­kation etwas anderes sind.» Er habe sich zudem weder vom Staat Israel, noch von ihm naheste­henden Organi­sa­tionen «für irgend­welche Form von Unter­stützung» bezahlen lassen. Ob Wigdo­rovits auch während seiner Karriere in Schweizer Medien­häusern daran arbeitete, den pro-israe­li­schen Diskurs zu stärken, bleibt unbeantwortet.

Wigdo­rovits Sicht­weisen dürften ihm während seiner Zeit beim Blick aber wohl zumindest geholfen haben. Denn Ellen Ringier, die Frau vom Verleger Michael Ringier, pflegt offenbar selbst Bezie­hungen zu Israel. Wie die Republik im April 2024 berichtete, veran­staltete Ellen Ringier in diesem Jahr einen Event, an welchem die israe­lische Botschaft «hochka­rä­tigen Gästen» einen Film über die Gräuel­taten vom 7. Oktober zeigte. «Die Presse­abteilung der israe­li­schen Armee hat das Material zu einem dreiviertel­stündigen Film geschnitten und seit Ende Oktober bei zahlreichen Veran­stal­tungen in verschie­denen Versionen Journa­li­stinnen, Geheim­dienstlern, Diplo­ma­tinnen, Politikern und anderen opinion leaders vorge­führt», heisst es in dem Artikel. «Zuerst in Israel selbst, in einem Besprechungs­zimmer einer Militär­basis, wo eine Handvoll ausge­wählter inter­na­tio­naler Journa­listen die Premiere des Films sahen. Später zeigten israe­lische Botschaften den Film weltweit.» 

Den Event organi­sierte die Verleger-Gattin in Zusam­men­arbeit mit der Unter­neh­merin Anat Bar-Gera, welche in Tech-Unter­nehmen in Israel investiert. Aufnahmen von dem Film durften die Gäste nicht machen, das Filmma­terial gehört der israe­li­schen Armee. Einen entspre­chenden Aufklärung-Event über die Kriegs­ver­brechen der israe­li­schen Armee gab es nach Kennt­nissen dieser Redaktion bislang nicht.

 

Von Melissa Müller

 

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  1. Danke für den Artikel! Sehr Informationsreich.

  2. Ein äusserst lesens­werter aber doch erschreckender Artikel! Dass die pro-zioni­stische Lobby darum bemüht ist, Menschen in den Sog ihrer Propa­gan­da­ma­schi­nerie zu ziehen, zeugt von ihrem verzwei­felten Kampf, die Schand­taten Israels um jeden Preis zu verschleiern.

  3. Danke für den Artikel!

  4. artikel ist top👍

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