Die Berichterstattung zu Israel und Palästina ist in den Schweizer Medien stark geprägt von pro-israelischen Erklärungsmustern. Palästinensische Stimmen gehen oft verloren, palästinensische Opfer werden dehumanisiert. Doch woher kommt diese Einseitigkeit? Wie werden Schweizer Medien durch pro-israelische Stimmen beeinflusst? Und was sagen Journalist*innen dazu? Ein Einblick in die Schweizer Medienwelt.
Knapp 300 deutsche Journalist*innen haben im September einen offenen Brief unterzeichnet, in welchem sie eine ausgewogenere Berichterstattung zu Palästina/Israel, den Zugang nach Gaza und den Schutz von Journalist*innen verlangen. Vertreten waren auch Journalist*innen grosser deutscher Medienhäuser wie die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Rundschau, der Tagesspiegel, der Spiegel, Stern, Arte, die Frankfurter Allgemeine, NDR, ARD, RTL, ZDF und die Zeit.
Schweizer Journalist*innen schlossen sich ihren deutschen Berufskolleg*innen rasch an. Ende September unterschrieben über 80 Journalist*innen einen fast identischen offenen Brief. Auch in diesem sind Medienschaffende aus grösseren Medienhäusern vertreten – darunter Blick, 20 Minuten, SRF, Beobachter, CH Media, Le Courrier, Republik und WOZ. Die Medienschaffenden mahnen, dass viele Journalist*innen eingeschüchtert seien: «Sie wollen sich zum Thema Gaza am liebsten gar nicht äussern, weil sie befürchten, als Terror-Befürworter*innen oder Antisemit*innen diffamiert zu werden.»
«Verstösse gegen das Völkerrecht werden in der Berichterstattung ausgeblendet – oder sogar gerechtfertigt»
Obwohl es in Gaza Journalist*innen vor Ort gebe, würden Nachrichtenagenturen wie die AFP und SDA immer wieder «ausschliesslich auf Informationen israelischer Behörden zurückgreifen» – teils ohne jegliche Beweise. «Redaktionen nutzen diese Angaben häufig unhinterfragt und ohne den nötigen Kontext zur Verfügung zu stellen, damit Leser*innen die Informationen kritisch einordnen können», steht sowohl in dem deutschen wie auch dem Schweizer Brief.
Viele Redaktionen würden sich zudem häufig «vereinfachenden oder einseitigen Erklärungsmustern» bedienen, palästinensische Perspektiven kämen dabei zu selten vor. «Indem einige Schweizer Medien das Kriegsgeschehen stark einseitig darstellen, tragen sie zu einer Entmenschlichung der Zivilbevölkerung in Gaza bei», heisst es in dem Brief. «Im schlimmsten Fall werden dadurch Verstösse gegen das Völkerrecht, wie sie in Gaza seit Monaten breit dokumentiert worden sind, in der Berichterstattung ausgeblendet – oder sogar gerechtfertigt.» Viele Medienhäuser würden so seit elf Monaten regelmässig gegen die Sorgfaltspflicht verstossen.
Das sagen die Journalist*innen
Um einen Einblick hinter die Kulissen von Schweizer Medienhäusern zu bekommen, hat baba news mit insgesamt acht Schweizer Journalist*innen gesprochen. Sie arbeiten für Ringier, Tamedia, NZZ und CH Media. Da die Personen ihren Job riskieren, werden ihre Aussagen anonym behandelt.
«Es ist heftig zu sehen, wie man gecancelt wird, wenn man sich mit Palästina solidarisiert», sagt eine erste Quelle mit Bezug zu Tamedia. «Ich finde beispielsweise die Hetzkampagne, die gegen baba news betrieben wurde, weil ihr Kritik am Staat Israel äussert, nicht in Ordnung». Die Gaza-Berichterstattung wirke auf sie «oft einseitig und klar pro-Israel». Dennoch traut sich die Person nicht, offen Kritik zu äussern. «Als jemand, der noch am Anfang seiner Journalismuskarriere steht, habe ich echt Angst um meine Existenz, die auf diesen Job angewiesen ist». Mit diesen Ängsten sei die Person aber nicht allein: «Auch Studienfreund*innen oder Kolleg*innen haben zwar eine klare Meinung zu dem Thema, trauen sich jedoch nicht, öffentlich darüber zu sprechen.»
Eine zweite Person erzählt baba news, dass bei Tamedia bei der Berichterstattung zum Nahen Osten «immer der Satz eingefügt werden musste, dass die Hamas am 7. Oktober den Krieg angefangen hat» – und dies mit Adjektiven wie «schreckliches» oder «schlimmstes» Massaker. Bei der Berichterstattung über Tote auf Seite der Palästinenser*innen wurden solche Adjektive eher weggelassen. «So kamen die Meldungen teilweise aber auch von den Nachrichtenagenturen», betont die Quelle. Sie glaubt, dass im deutschsprachigen Journalismus durch den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus ganz grundsätzlich eine Art Angst mitschwebe, als Antisemit zu gelten. Daher werde weniger Stellung bezogen als beispielsweise in Frankreich.
Bei vielen Zeitungen werde zudem vor allem das berichtet, «was gut klickt» – und das seien normalerweise personalisierte Artikel, die «am meisten Schrecken und Betroffenheit auslösen». Im Fall vom Gaza-Krieg seien es jedoch fast ausschliesslich die Angriffe auf jüdische Menschen, die «ausgeschlachtet werden». Weil Menschen aus dem arabischen Raum grundsätzlich enthumanisiert und Gewalt im arabischen Kontext «normalisiert» werde, würden Angriffe auf Spitäler oder Schulen von Seiten Israel oft angezweifelt und eher verharmlost. Dadurch werde «offensichtlich, dass der Konflikt nicht wirklich neutral beleuchtet wird».
«Es ist nicht immer klar, woher die Einseitigkeit kommt»
Auch eine Ringier-Quelle beklagt, dass die Berichterstattung alles andere als neutral sei. «Von dem, was ich so mitbekommen habe, wird schon von oben Druck auf die Journalist*innen ausgeübt», sagt die Quelle zu baba news. «Aber trotzdem ist nicht immer klar, woher die Einseitigkeit kommt. Viele haben auch einfach tatsächlich keine Ahnung von dem Thema oder zensieren sich selbst, aus Angst, gewisse Grenzen zu überschreiten.» Dabei spiele auch die Sorge mit, den Job zu verlieren.
Eine CH Media-Quelle sagt derweil: «Unsere Berichterstattung ist extrem einseitig und übernimmt weitgehend die typischen Argumente, die wir täglich von israelischen Mediensprecher*innen oder Politiker*innen hören.» Dazu gehöre beispielsweise das Argument, dass die Hamas die palästinensische Zivilist*innen als Schutzschilde benutze. Oder auch die Wortwahl, dass israelische Angriffe sich stets auf «Ziele» oder «Terroristen» richten würden. «Solche Argumente dienen dazu, den israelischen Terror in Gaza zu verharmlosen, gar zu legitimieren. Dass das israelische Militär schon Dutzende unserer Arbeitskolleg*innen in Gaza getötet hat, scheint unser Medium nicht zu interessieren.»
Dass die Berichterstattung so einseitig ausfällt, sei vor allem dem Chefredaktor und Auslandschef geschuldet. «Es gibt schon auch Journalist*innen, die differenzierter und mehr über das Leid in Gaza berichten möchten.» Aber diejenigen, die am Ende die Entscheidung treffen, halten gemäss der Quelle «lieber an ihrer pro-israelischen Linie fest».
NZZ-Chefredaktor kontrolliert Nahost-Artikel höchstpersönlich
Einen starken Einfluss scheint die Redaktionsleitung auch bei der NZZ zu haben. Eine NZZ-Quelle erzählt, dass es deshalb im Auslandsressort immer wieder Spannungen geben würde. «Während ein grosser Teil der Redaktor*innen und Korrespondent*innen das Leid der Palästinenser*innen und das Unrecht der Besatzung sieht, fährt der Chefredakteur eine stramm pro-israelische Linie und behält vor allem die Meinungsstücke genau im Blick, um sicherzugehen, dass die Berichterstattung im Grossen und Ganzen seiner Linie entspricht.» Immer wieder hätten sich Kolleg*innen beklagt, dass sie «beim Nahostkonflikt nicht dieselbe Freiheit haben wie bei anderen Themen».
Dass Chefredaktor Erich Gujer höchstpersönlich Artikel zum Thema Israel/Palästina durchliest und Anpassungen fordert, bestätigen auch zwei weitere Quellen der NZZ. Mit Gujer an der Spitze habe sich die NZZ generell stark verändert, meint eine vierte Person. Sie betont, sein Einfluss auf die Berichterstattung betreffe dabei nicht nur die Berichterstattung zum Nahen Osten. «Als Gujer Chefredaktor wurde, rutschte die NZZ immer mehr nach rechts. Unter diesem Druck wurden einige Journalist*innen entlassen, andere gingen von selbst. Es war ein richtiger Umschwung.»
Israel-Forum verbreitet Propaganda
Doch nicht nur grosse Medienhäuser verbreiten pro-israelische Inhalte. Mittlerweile gibt es mit «Fokus Israel» auch eine eigens dafür gegründete Plattform. Die 2024 entstandene Online-Plattform bezeichnet sich als «eine ehrenamtlich tätige, unabhängige Gruppierung aus der Schweiz», welche auf Initiative der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) und dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) gegründet wurde.
Auffallend ist ein auf der Website veröffentlichter Artikel über die Vereinten Nationen mit dem Titel: «UN: Vereint gegen Israel mit Unterstützung der Schweiz». Laut dem namentlich nicht genannten Autor zeichne sich die Weltgemeinschaft «seit Jahrzehnten durch eine massiv anti-israelische Haltung aus». Kritisiert wird etwa, dass «kein anderer Staat der Welt von der UN häufiger wegen Menschenrechtsverletzungen angeprangert wurde als Israel». Offenbar stört sich der Autor weniger an den Menschenrechtsverletzungen selbst, als an der Tatsache, dass die Vereinten Nationen diese anprangern.
Weiter wird auf Fokus Israel behauptet: «Kaum Interesse zeigte die UN in der Vergangenheit hingegen am Verhalten ihrer für die palästinensischen Flüchtlinge tätigen Mitarbeiter. Dies, obschon Untersuchungen ergeben haben, dass sowohl das UN-eigene Palästinenser-Flüchtlingshilfswerk UNRWA als auch private für die Palästinenser tätige NGOs oft von Mitgliedern palästinensischer Terrororganisationen unterwandert sind, und von diesen hinter den Kulissen kontrolliert werden.»
Die mutmasslichen «Untersuchungen» werden weder verlinkt noch genauer benannt. Fakt ist hingegen: Israel reichte für seine Terror-Anschuldigungen gegen das UN-Hilfswerk keine Beweise ein, wie ein unabhängiges Untersuchungskomitee dieses Jahr mitteilte. Ferner kam das Komitee zu dem Schluss, dass es zwar einige Neutralitätsprobleme innerhalb der UNRWA gebe – eine systematische Infiltration oder «Kontrolle» durch Terroristen konnten jedoch nicht bewiesen werden.
In einem weiteren Artikel behauptet Fokus Israel: «Das entscheidende Hemmnis auf dem Weg zu einer friedlichen Koexistenz zwischen dem von der Uno 1947 beschlossenen arabischen und jüdischen Staat sind die verschiedenen palästinensischen und anderen arabischen Terrororganisationen, die das Existenzrecht Israels verneinen und Israel mit terroristischen Mitteln bekämpfen.»
Im 2017 überarbeiteten Charter der Hamas werden die von der UN in 1967 für eine Zweistaatenlösung festgelegten Grenzen allerdings akzeptiert. Zudem erkannte die Palästinensische Autonomiebehörde Israels Existenzrecht an – Israel hingegen weigert sich bis heute, den Staat Palästina anzuerkennen, und erklärt stattdessen von Jahr zu Jahr mehr illegal annektiertes Land zum israelischen Staatsgebiet. Erst dieses Jahr stimmte die Knesset, Israels Parlament, zudem gegen die Anerkennung eines Palästinensischen Staates – mit 68 zu 9 Stimmen.
Trotz der faktisch fragwürdigen Berichterstattung erklärt Fokus Israel auf Anfrage von baba news, man verstehe sich selbst zwar nicht als «neutral» – dafür aber als «faktenorientiert». Mit Hinsicht auf den 7. Oktober sei Neutralität «für alle Menschen, die einen Funken Menschlichkeit in sich haben, undenkbar». Offenbar ist diese Menschlichkeit jedoch nicht universell, sondern selektiv. Mitleid für die über 42’000 getöteten Menschen in Gaza, die über 700 Getöteten im Westjordanland und die über 2000 Toten im Libanon findet sich auf dem Forum nicht.
Verantwortlich für diese Tode macht das Forum auch nicht Israel. Auf Anfrage heisst es stattdessen, «die feigen Hamas-Terroristen» seien es, welche «völkerrechtswidrig die eigene Zivilbevölkerung, Schulen und Spitäler in Gaza als Schutzschilde für sich und ihre Waffenarsenale nutzen.» Daher sei es «einzig und allein Hamas, welche diese entsetzlich vielen Tausenden von zivilen Opfern auf palästinensischer Seite zu verantworten und auf dem Gewissen hat.» Dass Israels Bombardierung von dicht besiedelten Gebieten, Spitälern und Flüchtlingsunterkünften völkerrechtswidrig ist, selbst wenn sich dort einzelne Hamas-Kämpfer befinden sollten, interessiert Fokus Israel offenbar nicht.
Ehemaliger NZZ-Auslandsredakteur wirkt bei Propaganda-Forum mit
Hinter dem fragwürdigen Propaganda-Forum steht gemäss der Website ein fünfköpfiges Team. Namentlich genannt werden aber nur zwei Personen: Sacha Wigdorovits und Ulrich Schmid. Letzterer war 35 Jahre lang bei der NZZ angestellt, mitunter als Auslandsredakteur und Israel-Korrespondent. Anfang 2023 diente er ab. Offenbar vertreibt er sich den Ruhestand seither mit der Israel-Plattform. Denn wie das Forum auf Anfrage mitteilt, überprüft er die Artikel des Forums vor deren Veröffentlichung.
Ob Schmid auch während seiner Zeit bei der NZZ schon in ähnlich engem Kontakt mit israelnahen Plattformen stand, und dort dieselben ideologischen Leitlinien verfolgte, ist unklar. Die NZZ gibt auf Anfrage an, dass alle Journalist*innen sich «nach den gesetzlichen Vorgaben, den vertraglichen Regelungen sowie den geltenden Redaktionsstatuten und Standesregeln» richten müssten. Zudem würden «Weisungen der jeweiligen Redaktionsleitung» gelten, um die «journalistische Unabhängigkeit» zu wahren und «Interessenkonflikte» zu vermeiden.
Israelische Ex-Politikerin schreibt Artikel für NZZ und Fokus Israel
Schmid ist aber nicht der einzige Kontaktpunkt zwischen Fokus Israel und der NZZ. In einem Dossier der Plattform, wo verschiedene Schweizer Medienberichte zum Thema Israel/Palästina gesammelt und verlinkt wurden, sind knapp 70 NZZ-Artikel aufgelistet – das macht rund drei Viertel aller aufgelisteten Artikel aus. Wigdorovits, der sich als Chefredaktor der Plattform bezeichnet, betont auf Anfrage, dies sei darauf zurückzuführen, dass «die NZZ im gesamten deutschsprachigen Raum die mit grossem Abstand umfassendste und beste Berichterstattung über dieses Thema hat».
Die NZZ und Fokus Israel lassen weiter dieselben pro-israelischen Stimmen zu Wort kommen. Die ehemalige israelische Politikerin Eniat Wilf, welche auf der Israel-Platform einen Frage-Antwort-Artikel veröffentlichte, beschreibt sich auf Instagram als «Zionistin, Feministin und Atheistin». Zudem verlinkt sie dort ihr Buch «Der Krieg der Rückkehr» sowie den Podcast «Wir sollten alle Zionisten sein». Zionismus ist eine politische Denkweise, die Ende des 19. Jahrhunderts entstand. Jüdinnen und Juden haben demnach das Recht auf das Land vom historischen Palästina, welches sie als ihr eigenes «Heimatland» sehen. Dieses Gedankengut ist einer der Grundsteine des israelischen Staats und zielt auf einen ethnisch jüdischen Staat ab – u.A. auf palästinensischem Land.
Am 27. August 2024 veröffentlichte auch die NZZ einen Gastkommentar der Zionistin, wonach die «Auflösung der UNRWA der Schlüssel zum Frieden im Nahen Osten» sei. Das UN-Hilfswerk verwaltet den Flüchtlingsstatus von Palästinenser*innen, die bei der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 vertrieben wurden. Ohne die UNRWA verfällt der Flüchtlingsstatus von Millionen von Palästinenser*innen – und somit das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat. Genau daher stammt wohl auch die Motivation von Wilf, gegen die UNRWA zu hetzen. Denn ein zentrales Ziel von Zionismus ist, die Rückkehr der Palästinenser*innen zu verhindern, um eine jüdische Mehrheit in Israel aufrechtzuerhalten. So wurde 2018 im «jüdischen Nationalstaatsgesetz» etwa festgehalten, dass das «Recht auf nationale Selbstbestimmung» in Israel «einzigartig dem jüdischen Volk zusteht». Allen Jüdinnen und Juden weltweit steht zudem das Recht auf israelische Staatsangehörigkeit zu – Palästinenser*innen hingegen bekommen nur in seltenen Fällen die Staatsangehörigkeit, und dürfen nicht zurück in ihre Heimatorte kehren, aus denen sie 1948 vertrieben wurden.
Eine Gegenstimme einer palästinensischen Person gab es in dem Artikel nicht. Die NZZ rechtfertigt den Artikel gegenüber baba news damit, dass auch dem UNRWA-Chef Philippe Lazzarini die Chance auf einen Gastkommentar gegeben worden sei, dieser habe allerdings abgelehnt. Weiter betont die NZZ: «Wir sind überzeugt, dass ein offener Diskurs nur möglich ist, wenn unterschiedliche Positionen Gehör finden – solange diese nicht extrem oder gar extremistisch sind.» Offenbar hält die NZZ die zionistischen Ansichten Wilfs sowie die Forderung der Aberkennung vom Flüchtlingsstatus von Millionen von Menschen demnach für gemässigt. Auch dass die israelische Politikerin das Hilfswerk der Vereinten Nationen auf X als die «Infrastruktur des palästinensischen Terrorismus» bezeichnet, hält die NZZ anscheinend für gemässigt.
20 Minuten-Gründer ist Chefredaktor von Israel-Platform
Schmid und Wilf sind allerdings nicht die einzigen Personen, die das Israel-Forum mit der Schweizer Medienlandschaft verbinden. Noch bedeutender ist Wigdorovits, der angibt, die Texte auf Fokus Israel zusammen mit einer namentlich nicht genannten ehemaligen Journalistin zu verfassen. Er ist zudem derjenige, welcher das Forum «aus eigener Tasche» bezahlt. Das Forum habe er gegründet, um «eine Plattform zu schaffen, welche einen vertieften Einblick in die Geschichte und politische Entwicklung im Nahen Osten, aber auch in jene des Antisemitismus gibt.»
Wigdorovits war Ende der 1990-er Jahre Chefredaktor des Blicks, hat 20 Minuten mitgegründet, war US-Korrespondent der SonntagsZeitung und Zürich-Redaktor beim Tagesanzeiger. Ebenso betreibt er die Kommunikationsagentur «Contract Media». Gemäss eines Interviews mit dem «Tagblatt» aus dem Jahr 2011 stammt Wigdorovits aus einer jüdischen Flüchtlingsfamilie und hat Verwandte, die in Israel leben.
Zur Zeitung sagte der Unternehmer damals, zu viele Journalist*innen seien «anti-israelisch». Er wolle das «verzerrte und falsche Bild von Israel in der Öffentlichkeit korrigieren». Schon damals gründete er dazu die Stiftung «Audiatur» mit einer gleichnamigen Info-Website, die ähnlich wie Fokus Israel fungiert. Verdient habe Wigdorovits damit eigenen Aussagen zufolge nichts: «Ich engagiere mich hier als Schweizer für die Meinungsbildung in der Schweiz», sagte er zur Zeitung. Bis heute werden auf Audiatur Kommentare und Berichte über den Nahen Osten aufgeschaltet. Doch auch ausserhalb der Plattform scheint die Stiftung Einfluss zu haben. Einer der Haupt-Autoren des pro-Israel Portals, Daniel Rickenbacher, fungiert mitunter als «Nahost-Experte» bei 20 Minuten, als «Extremismus-Forscher» beim Tagesanzeiger und als «Historiker» bei der Aargauer Zeitung.
Wigdorovits hält Vortrag über Pläne für Israel-Lobby
Wigdorovits Pläne, den Israel/Palästina-Diskurs in der Schweiz zu beeinflussen, gehen allerdings weit über die Foren Audiatur und Fokus Israel hinaus. In einem Vortrag vor der Handelskammer Schweiz-Israel stellte der ehemalige Blick-Chefredaktor im April 2011 im Detail vor, wie er die Schweizer Medienwelt beeinflussen wollte. Auf «Infosperber» wurde die dazugehörige Powerpoint-Präsentation veröffentlicht.
Zu Beginn der Präsentation schildert Wigdorovits die Stärken der Schweizer Medienbranche. Dazu gehört unter anderem, dass «weite Kreise sehr skeptisch gegenüber arabischen Staaten» seien. Zudem sei es eine Stärke, dass die «breite Bevölkerung ein Unbehagen gegenüber der Islamisierung des Westens verspürt» und sich auf «westliche Werte besinnt». Auch «einzelne Schweizer Medien» betrachtet er als positiv – aufgezählt werden hier der Blick und die Weltwoche. Gleichermassen sei auch die SVP eine Stärke der Israel-Freunde: «Israel als westliches, demokratisches Land geniesst bei Bürgerlichen (SVP) Sympathien.»
«Israel braucht eine aktive Lobby in Bern und gegenüber den Medien.»
Zu den Schwächen der Israel-Lobby zählen laut Wigdorovits Journalist*innen, die «traditionell mehrheitlich links und deshalb anti-israelisch/anti-zionistisch» seien. Zudem sei ein Problem, dass medial zu viel über «negative» Themen wie den illegalen Siedlungsbau berichtet werde – und dass «medial erfahrene (nicht-)jüdische Exponenten» fehlen, die «Israel verteidigen». Weiter würde die «israelfeindliche Politik vieler UN-Gremien» den Palästinenser*innen «zusätzlich Gewicht verleihen.»
Ein weiteres Problem für Wigdorovits: Die ehemaligen grünen Nationalräte Daniel Vischer und Geri Müller, mit denen die Palästinenser*innen laut Wigdorovits «starke Fürsprecher» hatten. Umso interessanter ist hier, dass Wigdorovits aufgrund einer Nacktselfie-Affäre, die Geri Müllers Polit-Karriere im Jahr 2014 beendete, vor Gericht stand.
Die Vorgeschichte hierzu: Der pro-palästinensische Nationalrat Geri Müller hatte damals einer Frau Nacktfotos geschickt. Als er sich von ihr trennte, liess sie diese veröffentlichen – was das Ende von Geri Müllers Politkarriere bedeutete. Die Staatsanwaltschaft warf Wigdorovits vor, die Frau zur Veröffentlichung der Bilder gedrängt zu haben. Wigdorovits wurde allerdings des Vorwurfs freigesprochen. So habe er die Frau zwar «mit Chefredaktoren in Kontakt gebracht und besprochen, wie Müller mit dem Bildmaterial zum Rücktritt gedrängt werden könnte», allerdings habe er der Frau auch gesagt, «sie müsse selber wissen, was sie tun wolle» – was für einen Freispruch der Nötigungs-Vorwürfe reichte.
Wegen Aufbewahrung und Kenntnisgabe unbefugt aufgenommener Gespräche wurde Wigdorovits dennoch zu einer bedingten 20’000 Franken Geldstrafe verdonnert. Zwischen Geri Müller und der AZ-Mediengruppe kam es wegen der medialen Hetzkampagne zu einer Einigung. Müllers politische Karriere war dennoch vorbei.
Wigdorovits «Problem» mit Geri Müller hatte sich somit gelöst. In seinem Vortrag von 2011 machte Wigdorovits aber auch im Hinblick auf die restlichen «Probleme» Lösungsvorschläge. Er schrieb: «Israel braucht eine aktive Lobby in Bern und gegenüber den Medien. Dazu brauche es starke jüdische und nicht-jüdische Exponenten als Wortführer». Um diese pro-israelischen Exponenten zu stärken und bekannt zu machen, schlug Wigdorovits Schulungen und Trainings für öffentliche Auftritte vor. Zudem sollen sie «bei wichtigen Medien» eingeführt werden und ihren Bekanntheitsgrad «durch Publikationen, Referate und Interviews» steigern.
Weiter forderte Wigdorovits, das pro-israelische Netzwerk in Politik, Wirtschaft und Medien zu stärken. Für die «Intensivierung der Beziehungspflege» schlägt der 20 Minuten-Gründer Treffen mit Bundespolitiker*innen zur «Vertrauensbildung und Aufklärung» sowie «Besuche bei wichtigen Chefredaktor*innen und Auslandsredaktionen» vor. Auch solle es Einzeltreffen mit «wichtigen Politiker*innen» sowie «Besuche der Bundeshaus-Fraktionen und Aussenministerin», geben. Zudem plante der ehemalige Journalist «Orientierungsveranstaltungen israelischer Spitzenvertreter aus Politik, Militär und Wirtschaft» und «Auftritte bei öffentlichen Veranstaltungen wie etwa der ARENA (SRF)».
Um der Berichterstattung gegenzuwirken, die nicht seinem Narrativ entspricht, fordert Wigdorovits ferner, «auf einseitige, anti-israelische Berichterstattung auf höchster Ebene zu reagieren». Diese Reaktionen sollten sowohl in schriftlicher als auch mündlicher Form erfolgen, und sich insbesondere an «Chefredaktor*innen und kritische Journalist*innen» richten. Er warnt: «In gewissen Fällen sind auch die Verleger einzuschalten.»
«In gewissen Fällen sind auch die Verleger einzuschalten.»
Das reicht aber offenbar nicht. Weiter sollten laut Wigdorovits «eigene Plattformen» entwickelt werden, um die «Abhängigkeit der redaktionellen Berichterstattung» zu reduzieren. Zudem brächte es ein «umfassendes Medienmonitoring – mit Unterstützung der israelischen Botschaft» und einen «Knowhow-Pool mit allen relevanten Fakten und News», der für «alle involvierten Kreise» zugänglich sei. Unter anderem schlägt Wigdorovits hierfür vor, eine Datenbank mit «allen wichtigen Medienvertretern und Politikern» zu erstellen.
Zum Zeitpunkt seiner Präsentation hatte Wigdorovits bei 20 Minuten und Blick zwar schon längst ausgedient. Dennoch zeigt die Präsentation, welch starke pro-israelische Haltungen er darin vertrat, und wie systematisch er diese in den Schweizer Mainstream bringen wollte – und mit Hinblick auf seine hochrangigen Positionen möglicherweise auch schon früher in Schweizer Medienhäuser eingebracht hatte. Dabei ist nicht auszuschliessen, dass sein Einfluss bis zum Schweizer Fernsehen reichte. Wigdorovits langjährige Partnerin, Ingrid Deltenre, war dort zwischen 2004 und 2009 Chefin.
«Lobbyarbeit habe ich noch nie gemacht»
Trotz der detaillierten Lobby-Pläne hält Wigdorovits sich nicht für einen Lobbyisten. Er betont: «Lobbyarbeit habe ich noch nie gemacht, da Medienkommunikation und interne Kommunikation etwas anderes sind.» Er habe sich zudem weder vom Staat Israel, noch von ihm nahestehenden Organisationen «für irgendwelche Form von Unterstützung» bezahlen lassen. Ob Wigdorovits auch während seiner Karriere in Schweizer Medienhäusern daran arbeitete, den pro-israelischen Diskurs zu stärken, bleibt unbeantwortet.
Wigdorovits Sichtweisen dürften ihm während seiner Zeit beim Blick aber wohl zumindest geholfen haben. Denn Ellen Ringier, die Frau vom Verleger Michael Ringier, pflegt offenbar selbst Beziehungen zu Israel. Wie die Republik im April 2024 berichtete, veranstaltete Ellen Ringier in diesem Jahr einen Event, an welchem die israelische Botschaft «hochkarätigen Gästen» einen Film über die Gräueltaten vom 7. Oktober zeigte. «Die Presseabteilung der israelischen Armee hat das Material zu einem dreiviertelstündigen Film geschnitten und seit Ende Oktober bei zahlreichen Veranstaltungen in verschiedenen Versionen Journalistinnen, Geheimdienstlern, Diplomatinnen, Politikern und anderen opinion leaders vorgeführt», heisst es in dem Artikel. «Zuerst in Israel selbst, in einem Besprechungszimmer einer Militärbasis, wo eine Handvoll ausgewählter internationaler Journalisten die Premiere des Films sahen. Später zeigten israelische Botschaften den Film weltweit.»
Den Event organisierte die Verleger-Gattin in Zusammenarbeit mit der Unternehmerin Anat Bar-Gera, welche in Tech-Unternehmen in Israel investiert. Aufnahmen von dem Film durften die Gäste nicht machen, das Filmmaterial gehört der israelischen Armee. Einen entsprechenden Aufklärung-Event über die Kriegsverbrechen der israelischen Armee gab es nach Kenntnissen dieser Redaktion bislang nicht.
Von Melissa Müller
Danke für den Artikel! Sehr Informationsreich.
Ein äusserst lesenswerter aber doch erschreckender Artikel! Dass die pro-zionistische Lobby darum bemüht ist, Menschen in den Sog ihrer Propagandamaschinerie zu ziehen, zeugt von ihrem verzweifelten Kampf, die Schandtaten Israels um jeden Preis zu verschleiern.
Danke für den Artikel!
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