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«Ayşe wurde getötet, weil unsere Regierungen nichts tun»

Die türkisch-ameri­ka­nische Aktivistin Ayşenur Ezgi Eygi war ins Westjor­danland gereist, um friedlich gegen den völker­rechts­wid­rigen Siedlungsbau und die Siedler­gewalt zu demon­strieren. Nach einem Protest schoss ihr ein israe­li­scher Sniper in den Kopf. Redak­torin Melissa Müller hatte Ayşe einige Tage zuvor kennengelernt.

Ich lernte Ayşenur Ezgi Eygi auf meiner Reise nach Palästina kennen. Sie sass mit ihrem Kollegen Ian im selben Grenzbus zwischen Jordanien und dem durch Israel besetzten Westjor­danland. Da ich Horror­storys über stunden­lange Verneh­mungen durch israe­lische Grenz­beamte gehört hatte, war ich nervös. Auch Ian und Ayşe schienen aufgeregt. Viel sprachen wir daher nicht. Auch nicht, als wir später gemeinsam in einem weiteren Bus in Richtung Jerusalem an illegalen Siedlungen vorbeifuhren.

Am Abend tourte ich dann mit einem palästi­nen­si­schen Kollegen durch Jerusalem. Als er mir gerade ein Haus zeigte, welches Israel Anfang der 2000er von seiner Familie gestohlen hatte, hörte ich ein lautes «Hey!». Ayşe und Ian standen vor mir, mit dabei eine weitere US-Ameri­ka­nerin. «Wir waren im selben Bus, weisst du noch?», sagte Ayşe fröhlich. Mit der Anspannung der Grenz­über­querung hinter uns kamen wir diesmal schnell ins Gespräch. Wir  liefen durch die Altstadt von Ostje­ru­salem, mein Freund gab uns eine Tour.

Aktivist*innen gehen in Gebiete mit besonders hoher Siedler- und Militär­gewalt, um eine Art «Schutz­schild» zu bilden.

In einem Cafe unter­hielten wir uns anschliessend über Politik. Ayşe erzählte, wieso sie nach Palästina kam: Um die Rechte der Palästi­nenser zu unter­stützen. Sie hatte sich beim Inter­na­tional Solidarity Movement (ISM) angemeldet, einer Organi­sation, die sich im Westjor­danland gegen Siedler­gewalt, Militär­gewalt und Landraub einsetzt. Ihre Strategie: Inter­na­tionale Aktivist*innen gehen in Gebiete mit besonders hoher Siedler- und Militär­gewalt, um dort eine Art «Schutz­schild» zu bilden und israe­lische Überfälle zu dokumen­tieren und zu verhindern. Ebenso nehmen die Aktivist*innen friedlich an Demon­stra­tionen gegen Landraub teil.

«Ich habe in den USA bereits alles versucht, um den Palästinenser*innen zu helfen», erzählte Ayşe. Sie veran­staltete einen Fundraising-Event, bei dem knapp 48’000 US-Dollar für notlei­dende Kinder in Gaza zusam­men­kamen. Sie organi­sierte Uni-Proteste in ihrer Heimat Seattle und ging an Demos. «Aber das alles hat keine wesent­lichen Verän­de­rungen bewirkt», so Ayşe frustriert. Einer der Gründe, weshalb sie nach Palästina gekommen war, war wohl, dass sie «nicht mehr wusste, was sonst noch tun». Ein Gefühl der Macht­lo­sigkeit lag in der Luft.

Langjährige Aktivistin

Am nächsten Tag traf ich Ayşe vor ihrem Hotel im musli­mi­schen Viertel vom illegal annek­tierten Ostje­ru­salem. Zeitgleich begannen israe­lische Soldaten dort, Palästinenser*innen für einen israe­li­schen Marsch von der Strasse zu vertreiben. Ihre Läden wurden geschlossen, Absper­rungen wurden errichtet. Jüdische und inter­na­tionale Passant*innen konnten hingegen weiterhin verkehren.

Ayşe war sichtlich nervös. «Vielleicht sollten wir lieber gehen», meinte sie. Ich fragte einen der Soldaten, was los sei. Er sagte: «Das ist eine Art Party, schaut zu und habt Spass!». Dann rief Ian uns aus einem gegen­über­lie­genden Gebäude zu sich. Herein­ge­lassen hatten ihn palästi­nen­sische Laden­be­sitzer. Sie führten uns auf das Dach, von wo aus wir den Marsch beobachteten.

«Komisch, dass er meinte, das sei eine Party», sagte Ayşe. «Die Hotel­re­zeption sagte, die machen das jeden Monat und es ist sehr gefährlich, ich solle ja nicht rausgehen.» Auch anti-palästi­nen­sische Sprüche würden häufig gerufen.

Wir beobach­teten den Marsch und gingen danach in ein Café, wo Ayşe erzählte, dass sie bereits 2016 aktivi­stisch unterwegs gewesen war und an Protesten gegen die Dakota Access Pipeline teilge­nommen hatte. Diese richteten sich in Solida­rität mit den Urein­wohnern der USA gegen den Bau einer Pipeline. «Wir haben damals mitten im tiefsten Winter in Zeltcamps übernachtet, bei Minus­graden», erinnerte sich Ayşe. Als wir uns unter­hielten, war sie 26 Jahre jung. Während der Pipeline-Proteste war Ayşe gerade einmal 18.

Am Folgetag gingen wir Falafel essen. Wir unter­hielten uns über die Rolle der USA in Gaza und im Rest von Palästina. Ayşe sagte, ihre Regierung sei am Völkermord an den Palästinenser*innen in Gaza beteiligt, indem sie Waffen lieferte und Israel Straf­lo­sigkeit gewährleistete.

Das letzte Treffen

Am nächsten Abend trafen wir uns dann in Ramallah. Während ich den Tag dort mit Sight­seeing verbrachte, nahm Ayşe an einem Training von ISM teil. Das 30-seitige Sicher­heits­pro­tokoll las sie im Vorhinein zwei Mal durch. «Es war ganz schön intensiv!», so Ayşe. Während des Trainings wurden Aktivist*innen anderswo im Westjor­danland angegriffen. Darüber war sie sichtlich beunruhigt. Dennoch erzählte Ayşe, dass sie plante, am übernächsten Tag zu einer Demon­stration nahe Nablus zu gehen. Dass diese gefährlich sei, erwähnte sie ebenso. 

«Ich bin hierher gekommen, um zu helfen.»

Ich und ein Freund sagten daraufhin, dass wir am nächsten Tag Sight­seeing in Bethlehem machen wollten und danach planten, nach Jericho zu fahren. Mehrfach versuchten wir, sie zu überreden, die Demo ausfallen zu lassen, um mitzu­kommen. «Ich würde gerne mitkommen, aber ich bin hierher gekommen, um zu helfen», erwiderte Ayşe. Sie war fest entschlossen, sich für die Palästinenser*innen einzu­setzen. Auch wenn sie Angst vor ihrem Vorhaben hatte.

Wir fuhren also alleine nach Bethlehem. Am Tag danach fragte ich Ayşe morgens, ob sie mit ins Museum kommen wollte. «Ich fahre an die Demon­stration», antwortete sie. «Gib mir Bescheid, wie es läuft», schrieb ich. «Ich werde dich auf jeden Fall auf dem Laufenden halten und hoffe, dass alle sicher bleiben», erwiderte sie. Um 11.58 Uhr schrieb sie dann: «Es hat angefangen». Es war die letzte Nachricht, die ich von ihr erhielt.

Die Ermordung

Gegen 15.30 Uhr folgte der Schock. «Sie haben eine Ameri­ka­nerin bei einer Demo in Beita erschossen», sagte ein Kollege plötzlich, als er aufs Handy schaute. Er zeigte mir ein Video. Darauf zu sehen: Ayşe. Tot. Auf einer Krankenhausliege. 

Gemäss einer auf Fotos, Videos und Zeugen­aus­sagen basie­renden Investi­gation der «Washington Post» wurde Ayşe um zirka 13.48 Uhr ermordet. Ein israe­li­scher Sniper, der rund 200 Meter entfernt auf einem Haus einer palästi­nen­si­schen Familie statio­niert war, schoss ihr in den Kopf. Dies fast eine halbe Stunde nachdem die fried­liche Demon­stration gegen illegalen Landraub geendet hatte. Ayşe und die restlichen ISM-Aktivist*innen waren zu diesem Zeitpunkt bereits aufgrund von Tränengas und Schüssen der israe­li­schen Armee vom Zentrum des Geschehens wegge­laufen und hatten unter Oliven­bäumen Schutz gesucht.

Es war Ayşes erste Aktion in Palästina. Innerhalb von weniger als zwei Stunden wurde sie ermordet. Sie starb unschuldig – so wie die 17 Palästinenser*innen, die seit 2021 im selben Dorf erschossen worden sind. So wie Zehntau­sende, die seit Oktober in Gaza ermordet wurden und Hunderte, denen im Westjor­danland dasselbe Schicksal ereilte.

Keine Konse­quenzen

Gemäss Inter­na­tio­nalem Gesetz hat Israel kein Recht, das Westjor­danland zu kontrol­lieren, Land zu rauben und fried­liche Demonstrant*innen zu erschiessen. Trotzdem kommt Israel seit Jahren straffrei mit diesen Aktionen davon. Beispiels­weise tötete die Armee im Jahr 2003 die US-ameri­ka­nische ISM-Aktivistin Rachel Corrie, als sie sich vor einen Bulldozer stellte, um gegen Abrisse der israe­li­schen Armee zu prote­stieren. Sie wurde zu Tode überrollt. 

Auch der britische ISM-Aktivist Thomas Hurndall wurde 2003 durch einen Kopfschuss getötet, als er in Gaza ein Friedenszelt auf einer Strasse errichtete, um Panzer der israe­li­schen Armee zu behindern. Nach monate­langem Koma wurde er 2004 für tot erklärt. Nur vier Wochen vor Ayses Tod schoss die Armee auf den US-ameri­ka­ni­schen ISM-Aktivisten Daniel Santiago. Zwar ging der Schuss ins Bein, und Santiago überlebte, dennoch gab es auch bei diesem Vorfall keine Konsequenzen. 

Hätte die Welt Inter­na­tio­nales Völker­recht durch­ge­setzt und verlangt, dass Israel sich aus dem Westjor­danland zurück­zieht und den Krieg in Gaza beendet – so, wie es der Inter­na­tionale Gerichtshof fordert – dann würde Ayşe heute noch leben. So wie Tausende andere auch.

Weder die USA noch die EU haben als Antwort auf Ayşes Ermordung Massnahmen wie etwa ein Waffen­em­bargo oder Sanktionen veran­lasst. Statt­dessen wiederholt die US-Regierung die Behaup­tungen Israels, dass Ayşe «durch einen Unfall» umgebracht wurde. Die Beweislage ist jedoch klar: Sie wurde gezielt von einem israe­li­schen Sniper ermordet, der sich im besetzten Westjor­danland befand, um illegal gestoh­lenes Land zu vertei­digen. Sie wurde getötet, weil sie sich für Menschen­rechte und die Einhaltung von inter­na­tio­nalem Völker­recht einsetzte – da es unsere Regie­rungen nicht tun. Ayşe wurde getötet, weil unsere Regie­rungen nichts tun.

Kein Einzelfall

Seit Ayşes Ermordung fühle ich vor allem eins: Macht­lo­sigkeit und Wut. Wie viele Unschuldige müssen noch sterben, bis Israel Inter­na­tio­nales Recht einhält? Wieso unter­nehmen die USA nichts, wenn Israel eine unschuldige US-Ameri­ka­nerin ermordet? Wieso überlässt die US-Regierung es Israel, sich selbst zu unter­suchen, anstatt eine unabhängige Unter­su­chung einzu­leiten? Seit wann unter­suchen Mörder sich selbst?

Seit wann unter­suchen Mörder sich selbst?

Dass die fröhliche, weltoffene Ayşe, mit der ich erst vor kurzem noch Zeit verbracht hatte, nicht mehr lebt, habe ich bis heute nicht vollständig reali­siert. Auch nicht, nachdem ich mich mit den ISM-Aktivist*innen traf, um einen Olivenbaum für sie zu pflanzen. Auch nicht, nachdem die Frau, die neben Ayşe gestanden hatte, als diese erschossen wurde, mir erzählte, wie sie zu Boden fiel und mit zurück­ge­klappten Augen aus Nase und Schläfe blutete. 

Der Schock sitzt tief. Alleine bin ich damit aber nicht. Tausende von Palästinenser*innen trauern täglich über ihre Famili­en­mit­glieder und Freunde, die ebenso sinnlos von Israel getötet wurden. Meine palästi­nen­si­schen Freund*innen sagten mir deshalb: Nun weisst du, was es heisst, Palästi­nen­serin zu sein. Doch obwohl ich die Bruta­lität Israels aus erster Hand miterlebt habe, bestreite ich das. Palästinenser*innen haben mit noch viel mehr Unrecht zu kämpfen. Das alles aufzu­zählen, sprengt jedoch den Rahmen eines Artikels.

Von Melissa Müller

 

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