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Filmemacher Samir: «Heute haben wir einen viel clevereren Stil der Ausgrenzung»

In «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» behandelt Filmemacher Samir sowohl seine eigene wie auch die Migrationsgeschichte italienischer Gastarbeiter*innen. Im Interview spricht er über Ausgrenzung damals und heute, und weshalb er von der Linken enttäuscht ist.

Samir, worum geht es in dem Film?

Ich erzähle meine persön­liche Geschichte, wie ich als Flücht­lingskind in die Schweiz gekommen bin, wie ich Gewerk­schafts­ak­tivist wurde, verbunden mit der Geschichte der Migration von Südeuropäer*innen, insbe­sondere Italiener*innen, in den 60er Jahren. Zudem versuche ich, einen Ausblick auf die heutige Zeit zu bieten. Gegen Ende des Films zeige ich afrika­nische Feldarbeiter*innen in Südeuropa. Dort, wo der Film eigentlich begann, mit der Auswan­derung der italie­ni­schen Arbeiter. Und da schliesst sich der Kreis.

1955 in Bagdad geboren, begann Samir in den 1980ern mit der Produktion von Filmen. Inzwi­schen hat er über 40 Kurz- und Langspiel­filme produziert.

 

Was hat dich angetrieben, den Film zu machen? 

Einer der wichtigsten Gründe ist die Verschärfung der politi­schen Situation gegenüber Migrant*innen in Europa. Ich habe gemerkt, dass die wenigsten «Bio-Schweizer*innen» von den gesetz­lichen und admini­stra­tiven Auflagen wissen, die die Migra­ti­ons­po­litik bestimmen. Auch meine Tochter war ein ausschlag­ge­bender Punkt. Sie ist 20 Jahre alt und wusste nichts von der neueren Geschichte der Schweiz, die von Migration geprägt ist. Dabei ist sie politisch aktiv, war am Klima­streik und ist in der Queer-Gender-Antiras­sismus-Bewegung dabei. In der Schule hat man ihr aller­dings nichts beigebracht über die Schwar­zenbach Initiative oder die Verschär­fungen im Asylgesetz.

Der Titel des Films lautet «Die wundersame Verwandlung der Arbei­ter­klasse in Ausländer». Wie hat sich die Arbei­ter­klasse über die letzten Jahrzehnte gewandelt?

Die Arbei­ter­klasse hatte sich formiert, weil Unter­drückung und Ausbeutung des kapita­li­sti­schen Systems Wider­stand erzeugt haben. Dieser Wider­stand war über 150 Jahre lang politisch sozial­de­mo­kra­tisch vertreten.

Als die ersten Migrant*innen in den 1960er Jahren aus dem mediter­ranen Raum in die Schweiz geholt wurden, weil es hier eine intakte Industrie­land­schaft gab, profi­tierten die Schweizer Arbeiter*innen durch sozialen Aufstieg und Reallohn­er­hö­hungen. Parado­xer­weise haben sich damals viele Leute aus den Gewerk­schaften dennoch von ihren modernen, progres­siven Positionen entfernt – hin zu rassi­sti­schen Positionen. Dadurch haben die Gewerk­schaften in den 60er Jahren die Migrant*innen, einen wichtigen Teil der Arbei­ter­klasse, ausgeschlossen.

Als die Schweiz in den 1970 Jahren dann anstatt in die Maschi­nen­in­du­strie ins Finanz­ka­pital investierte, begann dann der Niedergang der klassi­schen Arbei­ter­klasse. Die Fabriken wurden aufge­hoben, die Ausländer*innen, die arbeitslos wurden, wurden wegge­schickt. Viele Schweizer Facharbeiter*innen wurden in die Frühpen­sio­nierung geschickt. So wurde die Schweizer Arbei­ter­klasse praktisch abgeschafft.

In den 90er Jahren haben einige Funktionäre aus den Restbe­ständen der alten Gewerk­schafts­be­wegung dann eine neue Gewerk­schafts­be­wegung formiert. Inzwi­schen ist die stärkste Gewerk­schaft die Unia – sie ist mit zwei Drittel Ausländer*innen auch eine wichtige Vertre­terin von Migrant*innen geworden.

Im Film sprichst du im Hinblick auf die Ausgrenzung italie­ni­scher Arbeiter*innen von einer «stillen Apartheid». Woran würdest du diese ausmachen? 

Früher hat sich das durch die Ausgrenzung von Italiener*innen, die in Baracken leben mussten, ausge­drückt. Heute haben wir einen viel clevereren Stil der Ausgrenzung. In gewissen Gemeinden wird durch Steuern und Zustim­mungen kontrol­liert, wer dort hinziehen kann und wer nicht.

Vielen Ausländer*innen gibt man zudem keinen Schweizer Pass mehr. Wir haben 2,5 Millionen Menschen, die in den Unter­schichten rechtlos schuften müssen. Wegen neuer Bestim­mungen können ihre Aufent­halts­rechte jederzeit gekippt werden. Selbst das ständige Aufent­halts­recht (C Bewil­ligung) kann wider­rufen werden. Die Menschen müssen zittern, haben Angst, dass sie sozial absteigen könnten und arbeitslos werden – was dann direkt einen Einfluss auf das Aufent­halts­recht hat. Und das ist eigentlich eine stille Apartheid, wenn man nicht gleich­wertig behandelt wird wie andere.

Der Arbei­ter­klasse gegenüber stellst du die Expats.

Genau. Die Expats sind Fachkräfte des globalen Kapitals, sozusagen die «Söldner» des globalen Kapitals. Es sind die Finanz­fach­leute, IT-Fachleute, Spezia­listen im Organi­sa­ti­ons­be­reich, KPMG, Price­wa­ter­house – all diese Leute kann man Expats nennen. Sie werden dorthin versetzt, wo sie benötigt werden, oft zu ihren Gunsten. Diese Leute inter­es­sieren sich nicht unbedingt für das Umfeld, in dem sie leben, sie wollen sich an der Profit­ma­xi­mierung betei­ligen. Ausländer*innen übernehmen hingegen die Jobs der früheren Arbei­ter­klasse. Sogar wenn sie unter schlechten Bedin­gungen arbeiten müssen, werden Expats privi­le­giert behandelt gegenüber auslän­di­schen Unterschicht-Arbeiter*innen, die die Toiletten putzen, in der Gastro­nomie, Landwirt­schaft oder im Care-Bereich arbeiten.

Du kriti­sierst in deinem Film auch die Rolle der Medien und wie rassi­stisch damals über Italiener*innen berichtet wurde. Beispiels­weise wurden sie als «Messer­stecher» bezeichnet, die Frauen belästigen würden. Hat sich die Bericht­erstattung verbessert?

Verbessert hat sich nichts – im Gegenteil. Die Blick-Schlag­zeilen, die ich in meinem Film aufzeige, wurden damals fast immer in der Möglich­keitsform gehalten – im Vergleich zu heute waren sie geradezu nett. Das ist verblüffend zu sehen. Die Medien tragen Rassismus und Unter­stel­lungen gegenüber migran­ti­schen Menschen auch heute noch weiter.

Wie kam der Wandel von Italiener*innen als Feindbild hin zu Träger*innen der populären Kultur?

Ich denke, in dem Moment, als die Italiener anfingen, sich selbst zu organi­sieren, entwickelten sie eine Paral­lel­ge­sell­schaft. Als diese Struk­turen immer grösser wurden, strahlten sie auf die schwei­ze­rische Gesell­schaft aus, was zu einem Kultur­wandel führte. Es ist kein Zufall, dass Spaghetti Al Dente inzwi­schen ein Schweizer Begriff geworden ist. Diesen Kultur­transfer, den ich für positiv halte, hat es schon immer gegeben. Und das muss nicht unbedingt über Gewerk­schaften und politische Organi­sa­tionen laufen, sondern geschieht auch über die Fähigkeit der Menschen, sich nicht klein­machen zu lassen, sondern ihre Kultur weiterzuleben.

Wer sind die «neuen Italiener»? 

Heute gibt es keine entspre­chende Homoge­nität mehr. Auf dem Bau dominieren die Portu­giesen, im Care-Bereich setzen sich Leute aus Deutschland und aus dem ehema­ligen Ostblock zusammen. In der Gastro­nomie gibt es viele Kurden. Solange diese Unter­schichten sich nicht bewusst definieren und zusam­mentun, um die Gesell­schaft zu ihren Gunsten zu verändern, solange wird es auch keine Arbei­ter­klasse geben. Statt­dessen werden sie Ausländer*innen bleiben.

Es gibt immer wieder Abstim­mungen zum Thema Migration. Was sind deine Gedanken und Sorgen diesbezüglich? 

Die letzte positive linke Initiative für Menschen­rechte (Mitenand-Initiative) wurde vor über 40 Jahren einge­reicht. Seither existiert das Thema Migration für die Linke praktisch nicht. Sie überlässt das Feld rassi­sti­schen Rechten, und hat Angst, das Wort «Migration» auch nur schon in den Mund zu nehmen. Ich bin im Komitee der 4‑Viertel-Initiative, um für Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund in diesem Land zu kämpfen, damit sie die gleichen Rechte haben wie alle anderen. Dass die Linken, die sich eigentlich für Gleich­be­rech­tigung einsetzen sollten, hier nur Lippen­be­kennt­nisse machen, ist deprimierend.

Die 2,5 Millionen Menschen, die keine Rechte haben, werden links liegen gelassen –  gerade weil sie keine Bürger*innenrechte haben und für Politiker*innen als Wähler­schaft uninter­essant sind. Das ist völlig absurd. Dass wir als Migrant*innen in diesem Land auch bei der Linken nicht auf Interesse stossen, ist mir erst bei der Arbeit an diesem Film bewusst geworden.

Von Melissa Müller

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