Reportage

Jugend als Sans-Papiers – «Ich konnte niemandem vertrauen»

Als Sans-Papier zu leben, bedeutet, sich ständig zu verstecken, nicht mit anderen Teenagern ins Kino zu gehen oder mit Freun­dinnen über Geheim­nisse zu tuscheln. Jasmina erzählt.

In schlichten Grautönen gekleidet und die braunen Haare zu einem Pferde­schwanz gebunden kommt die Jugend­liche zur Tür herein. Schüchtern streckt sie zur Begrüssung die Hand hin. «Hallo, ich bin Jasmina», sagt sie leise. Jasmina* ist hier, um von ihrem Leben als Sans-Papiers zu erzählen. Davon, wie es ist, eine grosse Last auf den schmalen Schultern zu tragen.

Zwischen 95’000 und 250’000 Sans-Papiers wohnen und arbeiten momentan in der Schweiz. Die Schät­zungen sind weitläufig – nur selten weiss man, wer sich hinter den Zahlen verbirgt. Denn sich zu erkennen zu geben, ist für Sans-Papiers schwierig. Für viele könnte es das Ende ihres Lebens in der Schweiz bedeuten.

Jasmina ist zwölf, als sie ihre Heimat Nordma­ze­donien verlässt, um zu ihrem Vater in die Schweiz zu ziehen. Geplant seien drei Monate Sommer­ferien beim Vater und den Gross­eltern in der Schweiz gewesen, so Jasmina weiter. «Und dann bin ich einfach geblieben.»

«Niemand wusste, dass ich keine Papiere hatte.»

Die Eltern geschieden, klingt es so, als hätte sie keine grosse Wahl gehabt. Den Fragen über ihre Mutter scheint Jasmina auszu­weichen. Ihr Vater, selbst ein Sans-Papiers, habe ihr hier eine gute Ausbildung ermög­lichen wollen. In Mazedonien wäre sie womöglich Hausfrau geworden, meint Jasmina entgei­stert und fügt hinzu: «Hier in der Schweiz ist so viel mehr möglich. Hier möchte ich Ärztin werden!»

Während andere Mädchen sich in dem Alter zu schminken beginnen, oder sich für Jungs inter­es­sieren, beginnt für Jasmina in der Schweiz ein komplett neues Leben: Eine fremde Sprache, eine neue Schule, neue Freunde. Doch Jasmina kann sich nicht öffnen und vollum­fänglich auf ihr neues Umfeld einlassen. «Niemand wusste, dass ich keine Papiere hatte», erzählt sie. Selbst ihren Freun­dinnen konnte sie sich nicht anver­trauen. «Es wäre einfach zu schlimm gewesen, wenn jemand davon erfahren hätte.»

Was zunächst als Ausnah­me­si­tuation beginnt, wird für Jasmina und ihren Vater zum Alltag: Das Gefühl einge­sperrt zu sein. Die ständige Angst aufzu­fliegen und abgeschoben zu werden. Lügen, die sie ihren Freunden erzählen muss. «Wenn meine Freunde abends ins Kino gingen, blieb ich zu Hause», erinnert sich Jasmina. «Ich erzählte, ich könne wegen meiner Kultur nicht raus. Doch das war gelogen.» Das Risiko, nach einem Ausweis gefragt zu werden, sei einfach zu gross gewesen. «Natürlich wollte ich gern mit den anderen mit», sagt sie, «aber es ging einfach nicht.»

«Ich erzählte, ich könne wegen meiner Kultur abends nicht raus. Doch das war gelogen.»

Auch ins Heimatland zu reisen, um Freunde und Verwandte zu besuchen, sei ohne Papiere jahrelang nicht möglich gewesen. «Für meinen Vater war es nicht leicht, in der Schweiz Arbeit zu finden, da ständig Kontrollen gemacht wurden», sagt Jasmina.

Einmal sei es in einem Gespräch auf dem Pausen­platz um Sans-Papiers gegangen. Sie sei still daneben gestanden und habe versucht, ihre Nervo­sität zu verbergen. «Wissen sie es? Reden sie deswegen darüber?», sei ihr immer wieder durch den Kopf geschossen. Ein anderes Mal habe es in der Schule gebrannt, und die Polizei sei vor Ort gewesen. «Ich bin so froh, dass ich zu jenem Zeitpunkt nicht dort war», sagt Jasmina, und obwohl das Ereignis nun bereits Jahre zurück liegt, schwingt in ihrer Stimme noch Erleich­terung mit. Ihre Lektion habe an diesem Morgen ausnahms­weise später begonnen. «Die Polizei hat die Schüler kontrol­liert – das wäre das Ende für mich gewesen», so Jasmina.

Das erste Mal, dass sie jemandem ihr Geheimnis anver­traut, ist bei der Lehrstel­len­suche. «Ich wusste, dass ich ohne Papiere keine Chance hatte, eine Lehrstelle zu finden», erinnert sie sich. Ihr sei nichts anderes übrig geblieben, als ihren Klassen­lehrer einzu­weihen. «Hätte ich damals gewusst, wie er reagieren würde, wäre ich schon viel früher zu ihm gegangen», sagt sie. Das Geheimnis mit jemanden zu teilen, habe ihr gut getan, und ihr Lehrer habe sie unter­stützt, wo er nur konnte. «Er hätte mich auch einfach melden können», so Jasmina, «doch das hat er nicht getan – im Gegenteil». Er habe ihr immer wieder Mut gemacht: «Jasmina, du schaffst das!»

«Ich wusste, dass ich ohne Papiere keine Chance hatte.»

Während die meisten Klassen in den Landschul­ferien nach Frank­reich oder Italien reisen, beschliesst Jasminas Klassen­lehrer, mit seinen Schülern in den Kanton Schwyz zu fahren. «Ich glaube, das hat er für mich getan, weil er wusste, dass ich sonst nicht hätte mitgehen können», sagt sie verlegen.

Wärst du heute ein anderer Mensch, wenn du damals Papiere gehabt hättest, Jasmina? «Wahrscheinlich wäre ich offener gewesen», sagt sie. «Und weniger einsam.» Sich niemandem anver­trauen zu können, sei sehr schwierig gewesen. «Anfangs weinte ich jeden Abend», erinnert Jasmina sich und schaut aus dem Fenster.

Seit einem Jahr hat sie eine Aufent­halts­be­wil­ligung in der Schweiz. Ihre Papiere haben sie und ihr Vater im Rahmen der Härte­fall­re­gelung bekommen. Vor der 16-Jährigen steht nun ein völlig neuer Lebens­ab­schnitt. Einer, in dem sie endlich so leben kann wie andere Jugend­liche auch – ohne sich verstecken zu müssen.

 

*Name von der Redaktion geändert.

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert