Artikel

«Ich schäme mich für das Privileg, das Lager abends verlassen zu können»

Gastautorin Melina Stavrinos war vor fünf Jahren als freiwillige Helferin im Geflüchtetenlager auf Samos. In ihrer Reportage kehrt sie an den Ort zurück.

Jetzt stehe ich wieder hier. Auf diesem hässlichen Hügel, der auf der ansonsten maleri­schen Insel Samos so surreal erscheint. Ich stehe da, inmitten der Misere, die faulig-feucht und verbrannt riecht und schaue hinunter auf die Ägäis. Dieser Blick löste in mir immer ein Gefühl der Freiheit aus. Dieses bis an den Horizont grenzende Blau erinnerte mich daran, wie klein und unbedeutend ich und meine Sorgen im Vergleich zur wuchtigen Natur sind.

Der «Dschungel»-Bereich vor dem offizi­ellen Aufnahme- und Identi­fi­zie­rungs­zentrum (RIC) auf Samos.

Für die Menschen, die hierher geflüchtet sind, muss sich der Blick aufs glitzernde Mittelmeer gewaltig anders anfühlen. Sie werden an ihre oftmals lebens­be­droh­liche Reise erinnert und daran, dass es unmöglich ist, sich aus dieser von Wasser umgebenen Festung zu befreien.

Die Menschen, die hierher geflüchtet sind, werden von der EU im Stich gelassen.

Sie werden von der EU und den griechi­schen Behörden im Stich gelassen, dabei träumten sie von einer besseren Zukunft oder fürch­teten um ihr Leben. Die Hoffnungs­lo­sigkeit, die Verzweiflung, die Resignation spiegelt sich in so manchem Augenpaar wider, in das ich blicke. Genau wie damals, als ich vor knapp fünf Jahren dem Leid zum ersten Mal gegenüberstand.

Ein ganz normaler Tag 

Ich werde von Natasha, die für Ärzte ohne Grenzen arbeitet, durch den «Dschungel» geführt. Der Dschungel ist nicht mehr als ein Hang mit Bäumen, direkt am Stadtrand der Insel­haupt­stadt Vathy, neben dem offizi­ellen Geflüch­te­ten­lager. Die meisten der rund 2’000 Geflüch­teten, die zurzeit auf Samos festsitzen, leben hier, weil das offizielle Lager nur 648 Plätze bietet. Wir begegnen vielen Menschen, wir grüssen uns gegen­seitig. «Salam. Salam.» «Ça va, mon frère? Salut, ma soeur.» Dabei versuche ich den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, sie nicht zu bemit­leiden und ihnen dennoch mein Mitgefühl auszu­drücken, ihnen wortlos zu sagen: «Du bist nicht alleine, ich sehe dich und schäme mich dafür, was dir angetan wird. Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun. Es tut mir leid, dass ich es nicht kann.»

«Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun. Es tut mir leid, dass ich es nicht kann.»

Gleich­zeitig versuche ich, mir nichts anmerken zu lassen. So zu tun, als sei es ein ganz normaler Tag. Denn für viele der Geflüch­teten ist es ein ganz normaler Tag. Doch für mich ist es kein normaler Tag. Für mich ist es ein beson­derer Tag, an dem ich das Privileg habe, nicht nur über die Schande Europas zu lesen, sondern sie mit all meinen Sinnen zu spüren. Ich habe das Privileg, für einige Stunden durch den Schlamm und Müll zu stapfen, die Hässlichkeit der Krise zu beäugen und darüber zu staunen, dass Menschen Fitness­geräte, religiöse Stätten oder Brotöfen aus dem Boden gestampft haben.

Natasha nimmt mich mit in die kongo­le­sische Kirche, in der jeden Morgen ein Gottes­dienst statt­findet. Sie nehme sehr gern teil, wenn es die Zeit zulasse, sagt sie. Es sei eine besondere Stimmung im Raum, wenn die Menschen gemeinsam singen und für einen kurzen Moment gemeinsam hoffen und beten. Die Energie im Raum ist spürbar, obwohl Natasha und ich alleine sind. «Sie versuchen sogar den Mindest­ab­stand einzu­halten», sagt sie und deutet auf die farbigen Plastik­hocker, die im Zelt aufge­stellt sind. Ich finde es schön, dass sich die Menschen diese Insel geschaffen haben. Und gleich­zeitig ist es einfach nur traurig, dass so eine impro­vi­sierte Kirche, die absolut nichts mit einer Kirche zu tun hat, wie wir uns sie vorstellen, das Tollste hier sein soll. Bei uns würden Gläubige es kaum toll finden, ihre religiösen Zeremonien in einem Zelt, das im Sommer einem Treibhaus gleicht, durch­zu­führen. Aber für die hier, soll das toll sein.

Ungeschickt versuche ich, Natasha am steilen Hang über das Geröll zu folgen, ohne dabei ständig in Schlamm oder Müll zu treten. Wir bleiben bei einem Mann stehen, der Natasha um Rat fragt. Sein Nachbar oberhalb hat für die Verrichtung der Notdurft eine Latrine gebaut. Doch wegen des Regens läuft ihm deren Inhalt nun direkt ins Zelt. Er spricht Farsi, Natasha Arabisch. Ich spreche gar nichts von beidem, aber das ist auch nicht notwendig. Man kann das Problem sehen und riechen. Mit wenigen Wortfetzen und viel Zeichen­sprache erklärt Natasha dem Mann, dass sie sein Anliegen weiter­leiten werde.

Erinne­rungen kommen hoch

«Kannst du irgendwo die Ratten­falle mit der Nummer 64 sehen?», fragt mich Natasha. Die Ratten­falle Nummer 64 wäre tatsächlich meine erste Ratten­falle, da ich noch nie zuvor eine gesehen habe. Deshalb weiss ich zunächst gar nicht, wonach ich Ausschau halten soll. Ich schaue etwas unbeholfen herum und finde leider nur Ratten­falle Nummer 62.

Natasha erklärt mir, dass Ärzte ohne Grenzen die Ratten­fallen syste­ma­tisch aufge­stellt, sie regel­mässig leert und wieder mit Gift füllt. Das Problem sei, dass einige Bewohner*innen die Fallen direkt vor ihre Zelte stellten, um sich und ihre Familien besser vor Bissen in der Nacht zu schützen. Die Crew findet diese dann nicht mehr und kann sie demnach nicht mehr regel­mässig leeren und wieder mit Gift füllen. Obwohl Natasha eigentlich Gesund­heits­pro­mo­terin ist, beschäf­tigen sie die Ratten­fallen täglich. Ratten­fallen suchen, Ratten­fallen finden, Ratten­fallen-Verschie­bungen melden, über Ratten­fallen-Verschie­bungen aufklären. Mir fällt ein, mit wie vielen solchen schein­baren Banali­täten auch ich während meiner Zeit bei der NGO Samos Volun­teers konfron­tiert war. So etwas steht nicht im Jobbe­schrieb und so etwas schildert man auch im Nachhinein nicht als Erfahrung. Und doch sind genau solche Aufgaben so zeitintensiv.

«You have shoes for baby?”, fragt mich eine Frau, als wir die Mitte des Dschungels erreicht haben und Natasha gerade einem Mann die Telefon­nummer einer Anwältin gibt, da er in wenigen Tagen ein Asylin­terview haben wird. Die Frau zeigt auf ihren Sohn, den ich auf zwölf Jahre schätze. Er sieht ganz und gar nicht aus wie ein Baby und ich muss innerlich ein wenig schmunzeln.

«You have shoes for baby?», fragt mich eine Frau und zeigt auf ihren Sohn, den ich auf zwölf Jahre schätze.

Und ich weiss, dass ich wieder hier bin, denn es gibt kaum eine Frage, die ich in Vathy öfter gehört habe. Es gibt auch kaum eine Frage, die mich so wahnsinnig macht wie diese. Denn wer bin ich, darüber zu entscheiden zu können, ob jemand Schuhe an den Füssen hat oder nicht? Was gibt mir dieses Recht? Weshalb soll ich diese Macht haben? Und wieso muss ich ständig «Nein» sagen, wo ich doch hierher gekommen war, um «Ja» sagen zu können? Wie muss es sich wohl für die Betrof­fenen anfühlen, plötzlich so abhängig zu sein und nach Kleidung, Essen oder Decken zu fragen? Ich bin froh, diese Entschei­dungen nicht mehr treffen zu müssen.

Es ist und bleibt einfach schlimm

Während sich eine Traube wartender Menschen um Natasha gebildet hat, stehe ich da mit meinem Notizbuch und schaue Richtung Boden. Ich schäme mich dafür, ein paar Stunden in den würde­losen Alltag dieser Menschen einzu­dringen, nur um bald wieder zu gehen. Ich will nicht noch sensa­ti­ons­lustig dabei aussehen. Und dennoch versuche ich ganz bewusst wahrzu­nehmen, was um mich herum geschieht. Die Durch­sagen, die permanent und unver­ständlich über die Lautsprecher ertönen, vermi­schen sich mit franzö­si­scher und arabi­scher Musik, die aus den Handys vorbei­ge­hender Menschen erklingt. Kinder schlurfen gelang­weilt herum, eine junge Frau geht vorbei, auf dem Kopf trägt sie einen gefüllten Wasser­ka­nister. Dreckiger Wind weht mir ins Gesicht und bleibt an meinen Haaren und meinen Kleidern haften. Die Stimmung, die hier herrscht, ist schwer in Worten zu fassen. Spürbar sind sowohl die Spannung, die in der Luft liegt, wie auch die Hoffnungs­lo­sigkeit, die mich schier erdrückt.

«Es ist nicht mehr oder weniger schlimm als zuvor, es ist einfach anders schlimm», sagt Natasha auf meine Frage, ob die Situation sich gebessert habe, seit nicht mehr 8’000 sondern nur noch zirka 2’000 Menschen im und rund ums Lager leben, weil aufgrund der Pandemie viele aufs Festland gebracht worden waren. Schon während einer Einsätze 2016 und 2017 war die Situation sowohl auf den Inseln wie auch auf dem griechi­schen Festland schlimm.

Wer in so kurzer Zeit kein Geld für eine Bleibe auftreiben kann, wird obdachlos.

Schlimm ist auch der Gedanke daran, dass die Menschen neue Hoffnung schöpfen, wenn sie den Bescheid erhalten, nach Athen gehen zu können. Nur um dann zu merken, dass sie von der griechi­schen Haupt­stadt verschluckt werden. Denn seit einigen Monaten werden in Athen Zwangs­räu­mungen durch­ge­führt: Auch Kinder, Betagte, Schwangere oder Kranke landen auf der Strasse. Wer offiziell als Geflüchtete*r anerkannt wird, muss innerhalb von 30 Tagen die Unter­kunft verlassen. Wer in so kurzer Zeit kein Geld für eine Bleibe auftreiben kann, wird obdachlos.

Natasha zeigt mir eine Fitness­anlage, die aus alten Auto- und Veloreifen, Zahnrädern, Ästen und Pet-Kanistern zusam­men­gebaut wurde. Wir grüssen den Mann, der in Natashas Lieblingsshop Zigaretten und Eistee unter einer Plane verkauft und winken dem Coiffeur zu, der ihr den Sidecut schneidet. Als sie mich fragt, ob wir fürs Mittag­essen ins Büro in der Stadt zurück­kehren wollen, nicke ich dankend. Genauso wie ich das Privileg habe, mir das Lager mit eigenen Augen anzusehen, habe ich auch das Privileg zu entscheiden, dass ich jetzt gehen will. Ich entscheide, wann ich genug gesehen habe, wann ich essen und trinken will, und wann ich nach Hause gehen möchte. Die Menschen, die hier leben, können nichts von all dem selbst entscheiden. Teilweise stehen sie stundenlang Schlage, um ein krank­ma­chendes, ungeniess­bares Essen zu erhalten. Einige müssen monate- oder sogar jahrelang warten, bis entschieden wird, ob und wo ihnen Asyl gewährt wird oder nicht.

Dieser Wahnsinn muss aufhören

Zuhause wasche ich mir mit warmem Wasser den Schmutz ab, der an meiner Haut und an meinen Haaren klebt. Meinen Schmerz, den ich beim Anblick dieser Katastrophe spüre und der mich leicht benommen macht, werde ich jedoch nicht los.

Während ich zurück in Winterthur diese Zeilen schreibe, geht der wahrge­wordene Albtraum für Tausende von Menschen nur 1’500 Kilometer südlich von hier weiter. Kinder spielen mit zufällig gefun­denen Gegen­ständen im Dreck, statt zur Schule zu gehen. Frauen verschanzen sich aus Angst in ihren Zelten, anstatt nachts zur Toilette zu gehen. Männer werden aufgrund ihrer Hautfarbe syste­ma­tisch zu Opfern der Polizei, anstatt einer Tätigkeit nachgehen zu können.

Kinder spielen mit zufällig gefun­denen Gegen­ständen im Dreck, statt zur Schule zu gehen.

Jetzt käme die Stelle, die wenig­stens ein bisschen hoffen lässt. Aber das hier, das ist keine Geschichte, sondern die bittere Realität, die sich in diesem Moment auf den griechi­schen Inseln abspielt. Das ist der Alltag jener Menschen, die auf ein besseres Leben gehofft und nun zum Opfer der europäi­schen Migra­ti­ons­po­litik geworden sind. Zu viele Menschen hat die Hoffnung schon verlassen. Letztes Jahr hat Ärzte ohne Grenzen in Samos 2’352 psycho­lo­gische Konsul­ta­tionen durch­ge­führt. Einige der Patient*innen wurden als akut suizid­ge­fährdet einge­stuft. Meine Gedanken sind bei all den Betrof­fenen, die den Glauben ans Gute verloren haben. Mir bleibt nur zu hoffen, dass dieser wahrge­wordene Albtraum eines Tages aufhören wird.

 

Melina Stavrinos war 2016 als Helferin im Geflüch­te­ten­lager auf der griechi­schen Insel Samos tätig. Heute ist sie Kommu­ni­ka­ti­ons­expertin bei Ärzte ohne Grenzen.

  1. ja, der dreck, welcher auf dem herzen und in der seele klebt, lässt sich weder mit wasser noch mit seife abwaschen. ich schäme mich dafür, dass ich nicht mal richtig hinsehe, keine hilfe anbiete und einfach tatenlos in meiner kleinen bubble lebe und so oft auf hohem niveau jammere. ich kann das elend durch deine worte riechen und fühlen, ich fühle mich ohnmächtig — “ohne macht”, etwas an diesem leid ändern, die welt retten zu können. melina, du bist ein grosses schreib­wunder und ein grosses geschenk für diese welt. umarmig

  2. Marlise

    Danke Melina, das Unfassbare in Worte zu packen und diesen Leben einzu­hauchen. Auf Worte können Taten folgen. Wünschen wir uns, dass bald Taten folgen!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert