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Rassismus in der Familie – «Jetzt haben wir die ganzen Ausländer hier!»

Als sie ein Kind war, war ihr Opa für unsere Redaktorin der Grösste. Das Bild fing an zu bröckeln, als sie zum ersten Mal hörte, wie er über «Ausländer» herzog. Bis heute beschäftigt sie die Frage: «Wie gehe ich damit um?»

Wir sitzen am Esstisch, endlich mal wieder die ganze Familie versammelt. Aus der Schweiz und aus verschie­denen Ecken Deutsch­lands sind alle angereist, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. Die rot-weiss karierte Tisch­decke und Omas Plätzchen wecken süsse Kindheits­er­in­ne­rungen an unsere bayrische Zweit­heimat. Wie ich mich auf all das gefreut habe!

Genau wie früher drücken wir Cousinen und Cousins uns zusammen auf die Eckbank und hören Omas und Opas Erzäh­lungen zu. Bei Bier und Schwei­ne­braten packt Opa seine alten Räuber­ge­schichten aus und schwärmt von Omas Figur damals. «Wow, war die rassig!» Er erzählt vom Krieg und wie es war, ohne Schuhe zur Schule zu gehen. Wir haben jede seiner Geschichte schon minde­stens fünfzehn Mal gehört. Aber wenn Oma sagt: «Die kennen sie doch schon», schütteln wir alle wild die Köpfe. «Erzähl weiter, Opa!»

Ich liebe es, Opa zuzuhören. Jeden­falls bis zu dem Punkt 615–544-8043 , an dem er anfängt, über die heutige Zeit zu reden. Ich weiss nämlich schon, wie das ausgeht.

«Früher war alles ganz anders», beginnt er. «Das Leben, die Leute, …» Und dann kommt der Satz, auf den ich schon gewartet habe, von dem ich weiss, dass er alles kaputt machen wird: «Und jetzt haben wir diese ganzen Ausländer hier!»

«Früher war alles ganz anders. Und jetzt haben wir diese ganzen Ausländer hier!›»

Es ist nicht der erste Famili­en­streit zum Thema «Ausländer und Flücht­linge». Mittler­weile sollte ich es besser wissen und einfach die Klappe halten, wenn die Unter­haltung in diese Richtung geht. Aber ich kann nicht. Vor lauter Wut und Enttäu­schung laufen mir Tränen über das Gesicht und meine Stimme wird viel lauter, als ich das eigentlich wollte.

«Lernst du nie dazu?», fragt mich mein Bruder kopfschüt­telnd, als die versam­melte Verwandt­schaft verärgert vom Tisch aufsteht. «Toll, jetzt hast du uns den Abend versaut!», wirft mir meine Mom entgegen.

Ich kann es noch immer nicht glauben: Mein Opa wählt die AfD. Er unter­stützt eine Gruppe radikaler Rechts­po­pu­listen, von denen ich dachte, nur Vollidioten könnten auf sie herein­fallen. Wütende, frustrierte Angst­hasen. Aber doch nicht mein Opa!

Wenn wir durch die Stadt laufen, zeigt er auf ein paar arabisch ausse­hende Männer und raunt mir verschwö­re­risch zu: «Siehst du sie? Sogenannte Flücht­linge, wie sie den ganzen Tag mit ihren teuren Smart­phones herum­hängen.» Ich weiss nicht, ob er begreift, wie weh er mir damit tut. Wieso sagt er so etwas? Es hört sich an, wie eine billige Schlag­zeile aus der Boule­vard­zeitung. Denkt er nicht ein wenig weiter?

«Diese sogenannten Flücht­linge, wie sie mit ihren teuren Smart­phones herumhängen.»

Bisher sind jegliche Versuche einer konstruk­tiven Unter­haltung über das Thema gescheitert. Mir ist bewusst, dass das gröss­ten­teils meine Schuld ist. Meine Wutan­fälle bringen nichts, ausser dass wir uns beidseitig in unseren Haltungen versteifen, anstatt aufein­ander einzu­gehen. Mit einem «mit dir kann man einfach nicht disku­tieren!» wird die Meinungs­ver­schie­denheit dann jeweils abgetan.

Es ärgert mich selbst, dass ich so emotional reagiere. Aber das Thema betrifft und trifft mich. Es sorgt für Krieg in meinem Kopf, weil die Gefühle einfach nicht mitein­ander zu vereinen sind: Eine Person, die ich so sehr liebe, ist offen­kundig fremdenfeindlich.

Ich sehne mich nach der Zeit, in der wir zusammen in den Wald gingen und Baumhütten bauten. Er nahm unsere kleinen dünnen Klavier­finger, wie er sie liebevoll nannte, in seine grossen starken Arbei­ter­hände. Wir pflückten Pflaumen in fremden Gärten und bewarfen uns gegen­seitig mit Tannen­zapfen. Opa pupste auf Kommando, wenn wir ihm mit einem Ast auf den Po klopften. Er war der Grösste.

«Eine Person, die ich so sehr liebe, ist offen­kundig fremdenfeindlich.»

«Er ist immer noch dein Opa», versucht mich meine Mom zu trösten. «Das ändert sich nicht, nur weil er in gewissen Fragen eine andere Meinung hat als du.» Ich nicke. Ich will ihr glauben. Es kann doch nicht sein, dass uns politische Diskus­sionen ausein­ander reissen. Das will ich nicht zulassen.

«Vergiss nicht, dass er aus einer ganz anderen Zeit kommt», fügt Papa hinzu. «Er ist als Halbwaise im Krieg aufge­wachsen. Du musst auch versuchen, ihn zu verstehen.» Ihn verstehen. Das würde ich gerne. Mein Opa ist kein grund­legend schlechter Mensch. Doch wieso denkt er, wie er denkt?

Meine Eltern vertei­digen ihn. Und ich weiss, dass sie Recht haben, wenn sie mir sagen, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie er aufge­wachsen ist. Und dass ich genau so ignorant bin wie er, wenn ich nicht wenig­stens versuche nachzu­voll­ziehen, was in ihm vorgeht. «Du kannst kein Problem bekämpfen, wenn du nicht begreifst, woher es kommt.» Also will ich es versuchen.

«Ich will nicht zulassen, dass uns politische Diskus­sionen ausein­ander reissen.»

Mein Opa wurde gezeugt, kurz bevor sein Vater wieder an die Front zog. «Wir heiraten, wenn ich zurück­komme», hatte der Vater zur Mutter gesagt. Doch er kam nie zurück. Opas Vater starb im Kampf um die deutsche Grenze. «Und jetzt kommt diese Merkel und macht alle Grenzen auf?» Das macht für Opa keinen Sinn.

Opas Mutter arbeitete den ganzen Tag in der Waffen­fabrik. Opa selbst wuchs auf der Strasse auf, wo er Dosen sammelte, um sich eine Scheibe Brot zu verdienen. Er lernte Tag und Nacht, um der Beste in der Schule zu sein und ein Stipendium zu erhalten. Später studierte er Chemie, wurde Lehrer und arbeitete gleich­zeitig als Dachdecker, um seine Familie über die Runden zu bringen. «Was ich heute habe, habe ich mir erarbeitet. Und jetzt kommen Leute von überall, hängen faul bei uns am Bahnhof rum und bekommen alles in den Hintern gestopft?» Das findet Opa nicht fair.

Den ersten «N****», wie er sagt, hat er in seiner Kindheit gesehen. Aber nur einen Einzigen, und nur von Weitem. 2015 kamen dann plötzlich «ganz viele von denen». Sie schliefen in den Turnhallen. Das wurde Opa zu viel.

Jeden Abend schaltet Opa den Fernseher ein und schaut sich die Nachrichten an. «Ein Syrer tötete zwei Personen», «das Asylwesen kostet Deutschland so und so viel Geld» und «heute kamen wieder so und so viele Flücht­linge über die deutsche Grenze», hört er da. Das macht Opa Angst.

Ich weiss nicht genau, welche Erfah­rungen in seinem Leben es waren, die seine heutigen Ansichten formten. Es gibt viele mögliche Faktoren, die zu einer fremden­feind­lichen Haltung geführt haben könnten. Vielleicht sind es Ansätze von Erklä­rungen. Doch Recht­fer­ti­gungen dafür gibt es nicht.

«Hass muss nicht mit Hass bekämpft werden.»

Nehmen wir das Beispiel von Krieg und Armut in der Kindheit. Wenn das eine Erklärung für rechts­ra­dikale Tendenzen wäre, was hätte das dann für Konse­quenzen, wenn man in Betracht zieht, wie viel Krieg und Armut es auf der ganzen Welt gibt? Sollten dann nicht viel mehr Menschen rassi­stisch sein? Und könnte Opa denn nicht genauso gut sagen: «Ich wünsche anderen Kindern, dass sie nicht auch mit Krieg und Armut aufwachsen müssen»? Könnte Opa nicht auch sagen: «Ich habe meinen Vater im Kampf um die deutsche Grenze verloren. Wir sollten damit aufhören, um Grenzen zu kämpfen, und noch mehr Menschen­leben daran zu verlieren»? Es gibt immer verschiedene Optionen. Hass muss nicht mit Hass bekämpft werden.

Was die Medien angeht, so finde ich viele der darin vermit­telten «Fakten» proble­ma­tisch. Besonders, wenn wenn sie ungefiltert aufge­nommen werden, ohne dabei die Rolle des Kanals in Frage zu stellen. «Es ist ein Fakt, dass ein Syrer zwei Personen getötet hat», kann man laut eines deutschen Nachrich­ten­senders zum Beispiel behaupten. Aber wer bestimmt, dass genau diese Infor­mation fünf der fünfzehn Minuten Tages­schau einnimmt? Dass die Herkunft des Mannes prominent in der Schlag­zeile steht? Die Schlag­zeile mag neutral klingen, doch der Platz, den man ihr einräumt, ist es nicht. Wem das nicht bewusst ist, der wird zur Zielscheibe politi­scher Indok­tri­nation. Und gerade beim Thema Fremden­feind­lichkeit spielt diese eine grosse Rolle.

«Wem das nicht bewusst ist, der wird zur Zielscheibe politi­scher Indoktrination.»

Das Thema ist komplex, die darin verwickelten Emotionen sind stark. Für mich ist es nicht nur eine politische Debatte, sondern eine mensch­liche, eine persön­liche zwischen Opa und mir. Ich glaube nicht, dass wir uns noch einigen werden. Mit seinen Aussagen über «Ausländer und Flücht­linge» bin ich alles andere als einver­standen. Aber er bleibt mein Opa.

Wenn ich etwas aus der Sache in Erfahrung bringen konnte, dann ist es, wie nah und real Fremden­feind­lichkeit doch ist. Und dass es an uns liegt, ihr auf konstruktive Weise entge­gen­zu­wirken. Mit weniger Wut, das nehme ich mir vor. Aber auch wenn es viel Energie und Geduld braucht, will ich nicht aufhören, über das Thema zu disku­tieren. Rassismus ist falsch und nicht in Ordnung. Auch nicht am Familientisch.

  1. Wunderbar ehrlicher und feinfüh­liger Text. Vielen Dank fürs Teilen. <3

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