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Liebe Schweiz – ich habe ein Trauma

Schriftstellerin Samira El-Maawi hat ein Trauma. Von der Gewalt, die ihr weisser Vater nicht mitbekam und die ihre Schwarze Mutter für sich verarbeiten musste. Und sie hat einen Traum.

Liebe Schweiz, ich habe ein Trauma.

Dort wo ich wohne, zwischen Bergen und Tälern, Seen und Flüssen ist es passiert und passiert es noch immer. Und sei gewiss, ich würde jetzt nicht mein Wort an dich richten, wenn es nicht wichtig wäre. Und sei dir sicher, ich tue es mit Schmerzen, und mit der Angst, dass ich mich dadurch retrau­ma­ti­siere und mir Hass entge­gen­kommt. Und sei dir gewiss, ich würde lieber mein Schreiben für andere Themen nutzen – Leich­teres, Witzi­geres, Poeti­scheres – ich gehe ungerne diesen Weg, denn ich möchte nicht in diese Schublade, die du wohl bald öffnen wirst, gelegt werden und trotzdem richte ich mich an dich und ich wiederhole:

Liebe Schweiz, ich habe ein Trauma.

Du geniesst vielleicht diese Freiheit, nie aus einer Gruppe genommen zu werden, oder auf der Strasse nicht ohne Grund angehalten zu werden, gleich wie alle behandelt zu werden, sich nie zu fragen, ob man eine Existenz­be­rech­tigung hat. Ich habe ein Trauma, weil die weisse Mehrheit einen einheit­lichen Abwehr­me­cha­nismus lebt – ein Abwehr­me­cha­nismus der Rassismus weiterhin zulässt, so dass unser System nicht ins Wanken gerät, dass jeder bei seinen Privi­legien und seiner Macht bleiben kann.  Aber wir müssen darüber reden und reflek­tieren, dass wir alle rassi­stisch sozia­li­siert sind, dass dies tief in uns steckt, in jeder Pore und das bei jedem einzelnen von uns; egal welche politische Richtung wir nachgehen, egal ob wir uns politisch verstehen oder nicht.  Ich sehe dich jetzt vor mir, wie du den Kopf schüt­telst und denkst «nicht schon wieder Rassismus». Genau so geht es mir auch. Aber es ist nicht vorbei, es löst sich nicht einfach so auf — und deshalb wiederhole ich; liebe Schweiz, ich habe ein Trauma.

Aber wir müssen darüber reden und reflek­tieren, dass wir alle rassi­stisch sozia­li­siert sind.

Ein Trauma durch Racial Stress – meine Seele und mein Körper hat es gespei­chert, er zittert, wenn ich Rassismus erfahre, ich falle ein, werde zum Kind – die Vergan­genheit ist die Gegenwart. Schau, ich bin keine Wissen­schaft­lerin, ich bin keine Histo­ri­kerin, ich bin Autorin. Ich kann über Figuren, Zusam­men­hänge, Gefühle und Dramen schreiben. Hier ist also ein Drama, mein Drama, ein univer­selles gesell­schaft­liches Drama – und so sage ich nochmals; liebe Schweiz, ich habe ein Trauma.

In einer Welt, wo ich alles habe, stehe ich so oft alleine da und muss erklären, warum ich mich verletzt fühle, wenn das Wort M‑Kopf ausge­sprochen wird oder wenn zehn kleine N gesungen wird. Ich höre die Menschen, noch bevor sie was sagen, lachen und den Kopf schütteln. Mit einem bemit­lei­denden Lächeln schauen sie mich an. Dann möchte ich verschwinden, aus dem Raum gehen, aber ich kann nicht, weil ich meinem Mut beistehen muss. Endlich mutig. Ich bin endlich mutig. Und glaub mir, noch nie, noch gar nie, kein einziges Mal hat mir jemand geholfen. Mir wurde in Restau­rants in die Haare gegriffen, ich wurde als Diebin beschimpft, ich musste meinen Namen rauf und runter buchsta­bieren und wurde zig Male auf Hochdeutsch angesprochen, obwohl meine Mutter­sprache Schwei­zer­deutsch ist und beim Arzt kann ich nicht über meinen Schmerz sprechen, sondern muss über Safari reden. Ich sehe dich jetzt vor mir – du lächelst, du schüt­telst den Kopf. Das alles findest du nicht schlimm?

Und ich wiederhole; liebe Schweiz, ich bin trauma­ti­siert, von der unsicht­baren Gewalt, die an mich getragen wird, die mein weisser Vater nicht mitbe­kommen hat und meine Schwarze Mutter für sich verar­beiten musste. Meine weisse Freundin reali­siert erst jetzt, was passiert, was mir passiert. Sie ist froh, dass sie durch mich und andere immer wieder darauf aufmerksam gemacht wird. Und ich sage ihr, jetzt sage ich ihr – es ist genug. Reali­siere es selber, du brauchst mich nicht, hab Mut selber hinzu­sehen und aufzustehen.

Liebe Schweiz, ich habe einen Traum.

In meinem Traum stehen weisse Menschen auf und unter­stützen ihre Schwarzen Kolleg*innen. In meinem Traum sensi­bi­li­sieren sich Lehrer*innen, Berater*innen, Psycholog*innen und Ärzt*innen, zu diesem Thema und bringen nicht ihre eigenen Diskri­mi­nie­rungs­ge­schichten und exoti­sie­renden Stereo­typen rein. Sie lesen selbständig nach, wenn sie noch nicht viel darüber wissen und hören zu – sie hören einfach zu.

Reali­siere es selber, du brauchst mich nicht, hab Mut selber hinzu­sehen und aufzustehen.

Ich habe einen Traum, dass «unsichtbare» Gewalt, die Mikro­ag­gres­sionen, sichtbar werden. Aber nicht nur das Verhalten einzelner, sondern auch die unsicht­baren, struk­tu­rellen Ausschlüsse und Benach­tei­li­gungen. Dass ich nicht zum Schweigen gebracht werde, wenn ich über Rassismus spreche. Dass meine Freund*innen mich in die Arme nehmen, wenn mein Körper zittert und mich unter­stützen, wenn ich sie bitte, sie sollen auf rassis­mus­sen­sible Sprache achten.

Ich habe einen Traum, dass unsere Kinder in einer Welt aufwachsen, in der die Menschen wollen, dass niemand Schaden nimmt. Dass Zuhören genauso viel Wert ist wie Reden und alle Menschen den Platz erhalten von ihren eigenen Leiden zu erzählen. Dass es um keinen Diskri­mi­nie­rungs­ver­gleiche mehr geht, dass alle Menschen Platz finden, um über ihre Verletz­lichkeit zu reden.

Ich habe einen Traum — in meinem Traum kann die Schweiz über dieses Trauma reden.

Liebe Schweiz, in meinem Traum, ist mein Traum unser Traum.

  1. Laura Romina

    Liebe Samira
    Als eine “weisse” Frau unter­schreibe ich jedes Wort. Man kann nicht im Ansatz erfassen, wie sich diese ständige Ablehnung und dieses syste­ma­tische Schweigen anfühlen muss…
    Ein kompleter Eye-opener für mich war das Buch “Exit Racism” von Tupoka Ogette — das würde ich ALLEN von Herzen empfehlen!

  2. Liebe Samira — danke für diesen Text. Endlich sagt jemensch klar und deutlich, dass es nicht angeht, People of Color, Menschen mit Migra­ti­ons­ge­schichte für das Thema Rassismus verant­wortlich zu machen; endlich ein Text der sagt, dass es an allen liegt, inklusive der privi­le­gierten weissen Menschen, gegen jede Form von Rassismus und Diskri­mi­nierung aufzu­stehen. Weil der Rassismus zwar die Menschen verletzt, die darunter zu leiden haben, aber auch dieje­nigen zerstört, die ihn prakti­zieren, still und leis jeden Tag. Auch, indem sie einfach schweigen.

  3. Christoph Kelle

    Liebe Samira — danke für diesen Text. Endlich sagt jemensch klar und deutlich, dass es nicht angeht, People of Color, Menschen mit Migra­ti­ons­ge­schichte für das Thema Rassismus verant­wortlich zu machen; endlich ein Text der sagt, dass es an allen liegt, inklusive der privi­le­gierten weissen Menschen, gegen jede Form von Rassismus und Diskri­mi­nierung aufzu­stehen. Weil der Rassismus zwar die Menschen verletzt, die darunter zu leiden haben, aber auch dieje­nigen zerstört, die ihn prakti­zieren, still und leis jeden Tag. Auch, indem sie einfach schweigen.

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