Allgemein Artikel unserer Gastarbeiter*innen

«O lum bafsha kush ka ardh» – Schaut, wer gekommen ist

Was ging eigentlich in unseren Eltern vor, als sie beschlossen, ihre Heimat zu verlassen? Gastarbeiterin Arzije Asani hat diese Frage ihrer Mutter gestellt.

Wenn ich ehrlich bin, hätte ich nie gedacht, dass ich den Kosovo jemals verlassen würde. Als ich als junges Mädchen Lieder hörte, die vom Leben in der Ferne handelten, schmerzte mir das Herz, ohne dass ich dieses Leben jemals gekannt hatte. Heute erlebe ich dieses Leben selbst.

Im Dorf, in dem ich aufge­wachsen bin, standen viele Bäume. Wir hatten Äpfel, Pflaumen, Kirschen und Quitten. Viele schöne, weisse Blumen. Ich erinnere mich an das Summen der Bienen, deren Honig dein Gross­vater holte. Ich liebte die Natur in meinem Dorf sehr. Meine Augen konnten sich nie daran sattsehen. Die schönste und wärmste Natur gab es in meiner Heimat.

Wir begannen im Frühling und arbei­teten bis tief in den Herbst hinein.

Ich verbrachte meine Kindheit mit vielen Cousinen und Cousins. Geschwister hatte ich keine. Alle waren bei der Geburt gestorben. Mein Bezug zu meinen Eltern war daher sehr stark. Ich konnte nie länger als einen Tag ohne sie sein.

Als Jugend­liche begann ich auf dem Feld zu arbeiten. Wir pflanzten Tabak, Mais, Getreide, Tomaten und Salate. Dein Gross­vater verkaufte den Tabak. Wir begannen im Frühling und arbei­teten bis tief in den Herbst hinein.

Auch während meiner Studi­enzeit ging ich ins Dorf zurück, um zu arbeiten. Wir mussten jeden Cent zählen. Während meines Studiums kam es vor, dass ich manchmal nur einmal am Tag essen konnte. Das Geld genügte einfach nicht. Neue Kleider, wie du sie jetzt kaufst, konnte ich mir vielleicht einmal im Jahr leisten. Ich hatte jeweils eine Hose, die ich zwei oder drei Jahre lang trug. Als ich deinen Vater traf, und mich in ihn verliebte, inter­es­sierte es mich nicht, dass er arm war. Das war jedoch der Grund, warum wir unser Land verlassen mussten.

Das war der Grund, weshalb wir unser Land verlassen mussten.

Als ich in der Schweiz ankam, kam mir eine eisige Kälte entgegen, obwohl es Sommer war. Die Gerüche waren mir fremd, ich konnte sie kaum wahrnehmen. Dies erschwerte den ohnehin schon sehr harten und schmerz­haften Tag für mich. Ich hatte an diesem Tag meine Eltern und meine Freun­dinnen und Freunde verlassen. Ich hatte meine Heimat verlassen. Meine geliebte Heimat. Ich hatte Pristina verlassen, die Stadt, in der ich meine Studen­tenzeit verbracht hatte. Ich hatte all dies aus existen­zi­ellen Gründen verlassen. Für ein besseres und fried­liches Leben.

In meinen Armen trug ich deine Schwester, die damals erst ein Jahr alt war. Dein Vater arbeitete damals als Gastar­beiter auf einem Bauernhof. Er arbeitete bei einem Bauern, der mit seiner kranken Mutter, die im Rollstuhl sass, zusammen lebte. Dein Vater arbeitete auf dem Hof und auf den Feldern und ich half der älteren Frau im Haus und pflegte sie.

Mir gefiel die Sauberkeit in der Schweiz. Nirgends sah ich Abfall auf dem Boden liegen. Alles war schön aufge­räumt. Keine elend langen Warte­zeiten beim Postschalter. Die Schwei­ze­rinnen und Schweizer schienen mir sehr präzise und ordent­liche Leute zu sein. Ich fühlte mich aber dennoch sehr verloren. Ich verstand die Sprache nicht und versuchte mit Handbe­we­gungen mit der Frau zu kommu­ni­zieren. Dein Vater hatte mir ein paar Worte beigebracht. Doch das war nicht genug. Ich versuchte, den Bauern und dem Fernseher zuzuhören, und mir die Worte zu merken. Die Paket­be­zeich­nungen auf der Milch­packung oder auf dem Mehl halfen mir sehr.

Die Schwei­ze­rinnen und Schweizer schienen mir präzise und ordent­liche Leute zu sein.

Ich war auf dem Bauernhof gut beschäftigt, doch ich dachte ständig an meine Eltern. Ging es ihnen gut? Deine Gross­mutter litt seit Jahren an Rheuma und dein Gross­vater war bereits sehr alt, als ich sie verlassen hatte. Ich war ihr einziges Kind und die Sehnsucht schnürte mir die Brust zu. Bis circa 1995 hatten meine Eltern kein Hauste­lefon. Wir kommu­ni­zierten also nur mit Briefen. Ich wartete stets ungeduldig darauf, dass mich ein Brief von ihnen erreichen würde. Deine Gross­mutter konnte damals nicht schreiben. Sie diktierte die Worte meiner Cousine, welche sie nieder­schrieb. Die Briefe halfen mir, meine Sehnsucht ein bisschen zu stillen.

Einen Brief habe ich bis heute aufgehoben:

Ich zählte stets die Monate, Wochen und Tage bis wir im Sommer endlich wieder in die Heimat fahren konnten und ich meine Eltern fest umarmen konnte. Sie haben sich immer sehr gefreut, wenn ich sie besuchen ging, doch sie weinten nie vor mir. Sie versuchten immer stark zu bleiben. «O lum bafsha kush ka ardh» (Schaut nur, wer gekommen ist.) –  waren die Worte, mit denen mich deine Gross­mutter begrüsste.

Es belastet mich noch heute, dass ich die letzten Momente nicht mit ihnen teilen konnte.

Wenn ich bei ihnen war, verging die Zeit viel zu schnell und wir mussten wieder in die Schweiz aufbrechen. Das Letzte Mal, als ich deinen Gross­vater sah, umarmte er mich sehr fest und wollte mich nicht mehr loslassen. Als ich gegangen war, sagte er zu deiner Gross­mutter: «Das war das letzte Mal. Ich werde sie nie wieder sehen.» Meine Gross­mutter lachte und meinte, dass er mich ganz bestimmt wieder sehen würde. Er meinte dann: «Ich spüre es im Herzen. Ich werde sie nicht mehr sehen.» Neun Monate später, kurz nach deiner Geburt, ist dein Gross­vater verstorben.

Ich hörte erst drei Wochen später davon. Er wollte nicht, dass ich an seine Beerdigung kam, da ich damals vier kleine Kinder hatte und uns die finan­zi­ellen Mittel fehlten. Der Tag, an dem ich es erfuhr, war sehr schwer für mich. Ich hatte sein Begräbnis verpasst und konnte ihn nicht ein letztes Mal in meine Arme nehmen. Ein Jahr später verstarb meine Mutter. Deine kleine Schwester haben wir nach ihr benannt. Auch bei ihrem Begräbnis konnte ich nicht dabei sein, aus denselben Gründen. Es belastet mich noch heute, dass ich die letzten Momente nicht mit ihnen teilen konnte.

Ich hätte ihnen gerne noch die folgenden Worte gesagt:

«Lamtumire. Ishalla ma keni bo halal. Nese ju kam ofendu, ishalla zoti mi ka fal.» (Lebt wohl. Verzeiht mir, falls ich euch jemals Unrecht getan haben sollte; ich hoffe, dass Gott mir vergibt.) 

Ich bete zu Gott, sie in der nächsten Welt wieder zu treffen, sie mit Sehnsucht im Herzen zu umarmen, als ob sie noch am Leben wären, und mit ihnen die Zeit zu geniessen.

Das Mutter-Sein half mir durch diese Zeit. Ich entschied, für meine Kinder eine gute Mutter zu sein und übernahm Verant­wortung. Wenn wir Lands­leute besuchten, konnte ich meine Sehnsucht für meine Heimat ein bisschen stillen. Aber nie die Sehnsucht nach meiner Familie.

Für euch waren es nur Kassetten. In uns lösten sie jedoch grosse Gefühle aus.

Einmal gingen wir in Luzern, als im Kosovo Krieg herrschte, prote­stieren. Da ich als Studentin in Pristina oft an Demon­stra­tionen war, gab mir das ein Gefühl von Heimat. Ich hatte kurz das Gefühl, ich sei dort. Früher hatten wir nicht wirklich Zugang zu den albani­schen Sendern gehabt. Wir hatten aber zum Glück diese albani­schen Video­kas­setten, die wir uns abends anschauten. Albanische Filme, Komödien, Shows. Für euch heute waren es vielleicht nur Kassetten. In uns lösten sie jedoch grosse Gefühle aus. Ein Stück Heimat war das für uns.

Obwohl ich mich hier nie ganz Zuhause fühlen konnte, bin ich doch sehr dankbar und froh, dass wir gekommen sind. Als ihr klein wart, habe ich mir oft vorge­worfen, dass ich euch in die Schweiz gebracht hatte. Ich habe mir Vorwürfe gemacht und gedacht, dass ihr dort vielleicht ein schöneres Leben ohne Diskri­mi­nierung geführt hättet. Es tat mir im Herzen weh, als deine Schwester schluchzend nach Hause kam, weil ihr einige Schwei­ze­rinnen «Auslän­derin» zugerufen hatten. Und als ich in der Heimat merkte, dass ihr auch dort nicht wirklich akzep­tiert wurdet.

Ich habe mir Vorwürfe gemacht und gedacht, dass ihr dort ein schöneres Leben ohne Diskri­mi­nierung geführt hättet.

Doch jetzt, nach all diesen Jahren, bereue ich es nicht mehr. Ich sehe, dass es euch gut geht. Ihr konntet euch hier gut ausbilden lassen und führt jetzt ein selbstän­diges und freies Leben. Ein Leben, in welchem ihr studieren und euren Beruf selbst wählen könnt. Dieser Wunsch blieb mir leider unerfüllt.

Als ich in der Fabrik zu arbeiten begann, fühlte ich mich sehr schlecht. Wie konnte es nur so weit kommen, dass ich hier gelandet war? Ich hatte mir mein Leben anders vorge­stellt. Ich wollte fertig studieren und als Agronomin arbeiten. Als ich Mutter wurde, akzep­tierte ich jedoch die Situation. «Per hir te ekzistences.» (Um der Existenz willen.) Ich habe meine alten Wünsche losge­lassen und ein neuer Wunsch kam auf: Dass ihr studiert, euch weiter­ent­wickelt und unabhängig werdet.

Ich wollte nicht, dass ihr weniger als eure Freund*innen habt.

Ich wollte euch möglichst alle Wünsche erfüllen. «Mos me ju nda prej shokve dhe shoqeve.» (Um euch nicht von euren Freund*innen zu trennen.) Ich wollte nicht, dass ihr weniger als eure Freund*innen habt. Denn ich wusste nur sehr gut, wie sich das anfühlte. Ihr habt mir dabei geholfen, mich mit der neuen Situation zu versöhnen und den Schmerz loszulassen.

«Nuk ju kena lan juve qysh kam mbet une. Gjysme rruges. Ish kan plag ala ma e madhe.» (Ihr seid nicht auf der halben Strecke stecken­ge­blieben, wie ich. Das wäre noch viel schlimmer zu verkraften gewesen.) Ich möchte nun noch bis 62 arbeiten. Dann wird es sich so anfühlen, als ob ich doch fertig studiert und einen Master abgeschlossen hätte.

 

  1. andrea christen

    Danke für diesen Bericht, Frau Asani. Ich habe ihn eben gelesen. Er hat mich zutiefst berührt. Solche Berichte sind sehr sehr wichtig (A..C., CH, 1956).

  2. Es fühlt sich an als hätte ich mit meiner Mutter gesprochen, ich sehe es vor mir, ihre Kindheit, ihr Dorf, Anbau, Tiere, Familie, die Schule, ihr politi­scher Aktivismus, ihre Schwe­stern und Freunde, die Folte­rungen, ihr Kampf, Sie in Jeans und kurzen Haaren in die Imam-Familie einge­hei­ratet, ihre eigene Familie-wir, unser Haus, ein Auto, als emanzi­pierte politisch-engagierte Frau die tradi­tio­nelle Rolle/Pflichten einer Hausfrau, Mutter und Frau gerecht werden, die Flucht ins Ausland, der weitere Kampf, politi­scher, sozialer Engagement in der Diaspora, die Arbeit in der Fabrik und Putzfrau, der Krieg, die Träume, die Enttäu­schungen, die Probleme. Ein sehr emotio­naler Artikel.

  3. Mischel Babolpour

    und dann beschweren sich die Kinder, dass sie nicht mehr in der Schweiz leben wollen. Ich finde das so respektlos, wenn Eltern ihr ganzes Leben wegwerfen mussten um ihren Kindern ein schöneres anzubieten und diese dann undankbar sind.

  4. Sehr spanden Lebens Geschichte.
    Jeder von uns hat eine vergangene Wunde wo nicht geheilt wird.
    Ich wünsche Deine Mutter alles bestens was sie getan, natürlich für eine bessere Leben und der Ziel eigene Kinder.

  5. Fisnik Zyberi

    Toller Text!
    Ich denke, so wie deine Mutter fühl(t)en sich sehr viele Menschen, die ihre Heimat verlassen haben. Deine Mutter spricht ihnen aus der Seele. Wir, die Secondas und Secondos, sind von dieser Sehnsucht geprägt, aber auch wurden vielen von uns unsere Wünsche und Träume bedin­gungslos erfüllt. Mit beidem können einige nicht so gut umgehen, habe ich das Gefühl. Nichts­de­sto­trotz weiss ich, dass die erste Generation langsam begreift, dass der damalige Entscheid zur Auswan­derung richtig war und dass sie auf uns stolz sind.

  6. Wow, so ein berüh­render Text! Spannend und schön, in die Vergan­genheit von Migrant:innen zu sehen und ihnen so ein Stück näher zu kommen.

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