Der Oscar-nominierte Film «Quo vadis, Aida?» handelt von den Ereignissen rund um den Genozid von Srebrenica im Juli 1995. Wir haben mit der Hauptdarstellerin Jasna Đuričić über ihre Filmrolle Aida, Identitäten auf dem Balkan und Nationalismus gesprochen.
Frau Đuričić, herzliche Gratulation – «Quo Vadis Aida» war in der Kategorie «Best International Feature» nominiert. Was bedeutet Ihnen das?
Es ist natürlich eine grosse Sache, es bis zu einer Oscar-Nomination zu schaffen, aber am meisten freut es mich, dass der Film dadurch mehr Leute erreicht. Eine Oscar-Nomination hat ein ganz anderes Gewicht, sie hat dem Film selbst mehr Gewicht verliehen, insbesondere auch in der Region. Viele Leute, die Vorbehalte gegenüber dem Film hatten, wurden dadurch umgestimmt und haben ihn sich angesehen. Das war der grösste Vorteil dieser Nomination, denn Filme werden für Menschen gemacht, nicht für Festivals. Für mich als Schauspielerin war es natürlich eine grosse Ehre, meinen Namen unter Weltklasse Schauspielerinnen und Schauspielern aufgelistet zu sehen. Es ist eine Bestätigung dafür, dass das, was du machst, eine internationale Gültigkeit hat, dass du qualitativ auf demselben Niveau bist, nur dass jemand auf dem Balkan geboren wurde und jemand anders in London oder New York.
Welche Werte vermittelt der Film in Ihren Augen?
Für mich ist es ein Film über Liebe. Ein Film über die Liebe einer Mutter. Ein Film über Menschenwürde und über menschliche Grösse, die durch Vergebung zustande kommt, aufgeführt am Bild einer Frau.
Sie sind serbischer Nationalität. Wie war es für Sie persönlich, als Serbin die Rolle der bosnischen Übersetzerin Aida zu spielen?
Für mich war das kein Hindernis, denn Menschen sind Menschen. Und vor allem wir auf dem Balkan unterscheiden uns nicht so voneinander, wie uns viele weissmachen wollen. Man bedenke allein schon die gemeinsame Sprache. Auf dem Balkan hat eine grosse Durchmischung der Völker stattgefunden, nicht erst im Rahmen von Jugoslawien und der ethnisch gemischten Ehen, sondern bereits lange zuvor. Wir sind wie eine grosse Familie und man weiss buchstäblich nicht, wer eigentlich wohin gehört. Deshalb ist die Herkunft mir egal. Ich weiss, wie sehr muslimische Mütter, kroatische Mütter oder serbische Mütter während der Kriege gelitten haben. Das Gefühl von Leid kennt keine Nationalität und ist etwas, was alle Völker miteinander verbindet. In Anbetracht dessen, dass ich in Jugoslawien geboren wurde, wo es unwichtig war, zu welcher ethnischen Gruppierung oder Glaubensrichtung jemand gehörte, war und ist das für mich noch immer ein gemeinsamer geistiger Raum. Die Figur der Aida ist, wie ich, in Jugoslawien geboren. Sie ist weitsichtig und trägt einen Kosmopolitismus in sich, den auch wir im ehemaligen Jugoslawien in uns trugen. Sie ist, wie ich, Mutter, so dass ich ihr Handeln nachvollziehen konnte. Als Figur war sie mir deshalb sehr nahe.
War das Ihre Motivation, die Rolle der Aida anzunehmen?
Meine Motivation kam aus der Haltung heraus, dass das Schweigen gebrochen werden muss. Auf dem Balkan wird viel geschwiegen. Genozid wird negiert, Kriegsverbrechen auf allen Seiten werden negiert, wobei Srebrenica vom Ausmass her unvergleichlich bleibt. Ganz unabhängig davon bleibt ein Verbrechen ein Verbrechen, so wie ein Verbrecher ein Verbrecher bleibt, egal welcher Nationalität er angehört. Mein Motiv war, insbesondere als Serbin, dass wir über die Verbrechen sprechen müssen, dass wir nicht die Augen davor verschliessen dürfen. Die Zuständigen müssen benannt werden, egal welcher Nationalität sie angehören, denn solange dies nicht geschieht, werden wir niemals vorwärts kommen. Wegen dieser Dinge, wegen des Schürens von Hass, können wir nicht nach vorne blicken. All diese aus dem Zerfall des alten Jugoslawiens entstandenen Staaten sind schön gestaltete Fassaden. Frisch gestrichen und geschmückt. Aber im Kern ist das, was schon lange hätte geschehen müssen, nicht geschehen – nämlich, dass man sich entschuldigt und sich zu den jeweiligen Taten bekennt. Stattdessen werden die Opfer für politische Zwecke missbraucht.
«Meine Motivation kam aus der Haltung heraus, dass das Schweigen gebrochen werden muss.»
Ich habe gelesen, dass Sie aufgrund Ihrer Rolle in Serbien einem Shitstorm ausgeliefert waren.
In den Medien und Feuilletons erhielt der Film viel Lob, ebenso von Leuten aus der Branche, also Schauspielkollegen und Regisseurinnen, und allgemein Menschen, deren Meinung mir wichtig ist. Er wurde als sehr bedeutungsvoll betitelt. Der Shitstorm hat insbesondere auf den Sozialen Netzwerken stattgefunden. Das war sehr heftig und unangenehm. Mir ist das so zum ersten Mal passiert, zumal ich mich selbst kaum auf diesen Netzwerken bewege. Doch anscheinend ist das heute zur Angewohnheit geworden, seinem Hass auf sozialen Netzwerken freien Lauf zu lassen. Es muss nicht viel geschehen, dass eine grosse Anzahl Menschen das Gefühl hat, es sei Teil der Demokratie Hassrede zu verbreiten. Rund die Hälfte der Leute, die sich auf diese Art bei mir gemeldet haben, waren junge Leute, die nichts über das Thema wussten. Sie wissen nichts und verneinen trotzdem die Kriegsverbrechen ihres Volkes, wobei man nicht ausser Acht lassen darf, dass auch an den Schulen keine objektive Aufarbeitung geschieht. Niemand hat ein Interesse daran, auf objektive Art darüber zu berichten. Das sind nationalistische Narrative auf allen Seiten, die sehr viel Gewicht haben.
«Bei einer Jugend, die nationalistisch eingestellt ist, stellt sich die Frage, weshalb sie dann überhaupt im Ausland lebt.»
Ich mache die Beobachtung, dass dieser Nationalismus insbesondere auch bei jungen Leuten in der Diaspora stark verbreitet ist. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Die meisten jungen Leute aus der Diaspora kennen ihre Heimat nur aus den Sommerferien. Der Sommer ist überall schön und alle haben gute Laune, aber das ist nicht das Leben hier. Natürlich ist es gut und notwendig, seine eigenen Traditionen, Bräuche und die eigene Sprache pflegen zu wollen, aber auch im Ausland stellt sich die Frage, wer diese nationalistischen Diskurse bestimmt. Wo finden Sie statt? Für mich ist das unverständlich. Gerade die Jugend ist dazu da, offen für alles zu sein. Für alle Erfahrungen, alle Menschen, für Menschen jeglicher Nation und Hautfarbe. Es sollte keine Jugend sein, die verschlossen und nach innen orientiert ist. Bei einer Jugend, die nationalistisch eingestellt ist, stellt sich die Frage, weshalb sie dann überhaupt im Ausland lebt.
In der Republika Srpska wurde der Film verboten. Was denken Sie darüber?
Ja. Was soll ich dazu sagen? Ich denke natürlich nichts Gutes darüber. Das Problem ist: Niemand hat die Menschen danach gefragt. Das sind Entscheidungen, die von einer Minderheit gefällt werden. Das darf man nicht vergessen. Niemand hat beispielsweise die Anwohner von Banja Luka gefragt, ob sie den Film sehen wollen oder nicht. Ich bin sicher, dass es viele Menschen in der Republika Srpska gibt, die sich diesen Film trotz des Verbots angesehen haben. Er konnte sehr lange über die Plattform «Meeting Point» erworben und heruntergeladen werden, die Leuten auf dem ganzen Balkan zugänglich ist. Und vielleicht war es ja sogar ein Vorteil, dass die Kinos während der Pandemie geschlossen waren, denn in bestimmten Kreisen ist es tatsächlich gefährlich, sich einen solchen Film öffentlich, also beispielsweise im Kino, anzusehen. So konnten ihn sich die Leute unbeobachtet zuhause anschauen. Und das haben sie auch. Das weiss ich, weil mir viele Leute aus der Srpska Republika geschrieben haben.
Kommen wir zurück zum Film. Wie haben Sie sich auf die Rolle der Aida vorbereitet?
In Anbetracht dessen, dass mir das Thema am Herzen lag, war ich hier viel umsichtiger und sorgfältiger als sonst. Ich hatte zudem genug Zeit zur Vorbereitung, ungefähr ein Jahr, in welchem ich mich ganz allein und für mich mit dem Thema auseinandergesetzt habe. Ich habe alles gelesen, was ich zu Srebrenica gefunden habe, Srebrenica vor dem Krieg, während des Krieges, während des Völkermordes und danach. Dann habe ich jegliche Dokumentarfilme auf Youtube dazu geschaut, dann Interviews mit den Überlebenden. Danach gab es Vorbereitungen mit dem ganzen Filmteam. Diese Vorbereitungen haben wir sehr ernst genommen – es handelt sich schliesslich nicht um ein historisches Ereignis von vor 100 Jahren oder aus dem 16. Jahrhundert, bei dem eine gewisse zeitliche Distanz herrscht. Hier haben wir Überlebende. Wir haben auch Täter, die diese Dinge ausgeführt haben. Wir haben Zeugen. Deshalb mussten wir alles sehr genau und präzise vorbereiten, um die Ereignisse wirklich so abzubilden, wie sie tatsächlich stattgefunden haben. Wir wollten uns nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, wir hätten die Geschichte umgeschrieben oder erfunden. Insbesondere die Szenen rund um Ratko Mladić haben wir identisch nach vorhandenem Videomaterial übernommen. Abgesehen von den inhaltlichen Vorbereitungen habe ich selbst stark an meinen Sprachfähigkeiten gearbeitet. Aida ist ja Übersetzerin und allein schon die Arbeitsweise einer solchen war neu für mich. Gleichzeitig habe ich stark am Dialekt, wie er in Srebrenica gesprochen wird, gearbeitet. Es ist ein sehr spezifischer Dialekt, der sich z.B. stark von jenem in Sarajevo unterscheidet. Es war wichtig, all diese Vorbereitungen zu treffen.
«Wir wollten uns nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, wir hätten die Geschichte umgeschrieben oder erfunden.»
Welche Szene fanden Sie als Schauspielerin am schwierigsten zu spielen?
Am schwierigsten fand ich die Szene, wo Aida die Überreste ihrer Familie zu identifizieren versucht. Ich habe reale Videoaufnahmen solcher Szenen gesehen, und ich weiss nicht, ob es etwas Schlimmeres für eine Mutter geben kann. Das war die schwierigste und gleichzeitig empfindsamste Szene, was auf die gesamte Filmcrew übergeschwappt ist. An jenem Drehtag herrschte eine besondere Stille am Set. Alle gingen auf Zehenspitzen. Die Set-Designer haben für eine sehr authentische Szenerie gesorgt. Wir haben die Szene auch nicht geprobt. Die Regisseurin Jasmila sagte mir lediglich, in welche Richtung ich ungefähr gehen musste, damit die Kamera mir folgen konnte. Nur das war abgesprochen. Ich wusste also nicht, wo in dieser Halle die Überreste von Aidas Ehemann und ihren Söhnen genau lagen. Das hat die intensive Erfahrung dieser Szene für mich verstärkt. Ich als Schauspielerin hatte plötzlich Angst davor, dass ich Aidas Mann und ihre Söhne nicht erkennen würde. Die Zeit vergeht, die Erde verschlingt und zersetzt alles. Es ist mittlerweile sehr schwierig, an den Überresten jemanden wiederzuerkennen. Ein kleiner Stofffetzen oder ein Plastikgegenstand, ein Turnschuh oder eine Uhr können helfen, aber mit der Zeit wird es immer schwieriger. Auch mir als Schauspielerin fiel es schwer, die Überreste von Aidas Ehemann und Söhnen wiederzuerkennen. In dieser Szene hat es keine Schauspielerei gegeben. Und der ganze Film ist ja auch so. Der Film wurde der Realität nachgespielt.
Eine der erschreckendsten Szenen fand ich jene am Schluss. Aida kehrt in ihr Dorf zurück und trifft auf Menschen, die im Krieg Verbrecher gewesen waren. Sie sind jetzt ihre Nachbarn, sie unterrichtet deren Kinder, plötzlich scheint alles wieder idyllisch normal. Für mich ein sehr erschreckendes Bild, das, wie Sie bereits angedeutet haben, eine Art gemachte Fassade zeigt, die jedoch stark bröckelt und hinter der sich Schreckliches verbirgt. Ich hatte den Eindruck, der Krieg ist noch nicht vorbei. Was ist Ihrer Meinung nach die Message des Films?
Aida ist zurückgekehrt. Wo soll sie auch hin? Es ist ihr Dorf, die Überreste ihrer Familie liegen hier begraben. Sie wurde da geboren, weshalb sollte sie woanders leben? Es ist ganz natürlich, dass sie zurückkehrt. Und dennoch zeigt sie Grösse. Denn obwohl sie jedem Tag den Mördern ihrer Familie begegnet, vergibt sie. Das Ende des Films oder dessen Message ist offen, so dass die Zuschauer selbst ein Fazit ziehen können. Als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe, fand ich jene Szene auch am erschreckendsten. Ich habe all dieses gemeinsame Leid und Elend gesehen. Wie niemand im Vorteil und alle im Verlust sind. Alle. Die Opfer und die Täter. Am Ende stellt sich die Frage, ob die Kinder in der Schulaufführung ihre Augen verschliessen, wie das ihre Eltern tun, oder ob sie jene sind, die ihre Augen füreinander öffnen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Von Albina Muhtari (Interview und Übersetzung)