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Sprachlos in einer Sprache namens Zuhause

Die Journalistin und Poetry Slammerin Marguerite Meyer verbringt derzeit ein halbes Jahr in der albanischen Hauptstadt Tirana. Ein Ort, der für sie vertraut wirkt, aber auch fremd. Denn: Sie merkt, wie sie sich in der Sprache ihrer Grosseltern nicht verständigen kann. Das liegt an einer Familienbiografie, wie es sie in der Schweiz und in der Welt zu Tausenden gibt. Ein Gedicht über Heimat, letztendlich.

Die Strasse riecht nach Abgas und Byrek,
der Flieder hängt schwer, 
Sommer­vor­hänge zwischen blechernen Schlangen, 
und stets diese Musik.

Diaspora-Poesie, könnte man sagen, 
sehnsüchtig im Herzen 
und blind auf einem Auge. 
Doch so schreiben darf ich nicht. 
Das bin nicht ich, 
nicht mal Diaspora,
dazu habe ich kein Recht. 

Ein alter Mann im Anzug,
die Hände ruhen hinter dem Rücken. 
Die Damen wiegend im Gang, Arm in Arm. 
Im Café ein kurzes Kopfnicken, 
die Handgeste seltsam vertraut.
Ein Kind mit Pausbacken zahnlückt mich an. 
Oh zemër.

Um die Ecke zwei Männer im Park,
Schach­spiel
ohne Ziel
und ohne Hast. 
Die Nachbarin wischt in stillem Takt vor dem Haus,
wer liebt den Geruch von Chlor­bleiche denn nicht?

Ich zeichne mit dem Finger dem Gedächtnis entlang,
auf der Landkarte jener Erinnerungen, 
die nie die meinen waren.

Ich bade in einer Sprache namens Zuhause, 
In meinem Zuhause badete ich in Sprache.
Eine Zunge,
in der ich Kind bin,
Kleinkind,
Baby.

Si je?
Gut, danke, dir? 

Nuk kuptoj.
Ich verstehe nicht.

Jemand lächelt, während wir tanzen,
deutet auf mein Gezucke und meint auf Englisch: 
The shoulder never fails.
Du gehörst auch hierher.
Irgendwie schon
und irgendwie nicht,
sage ich. 

Meine Zunge, filetiert in dünne Scheiben,
die sich zusam­men­zu­fügen versuchen,
sprachlos in einer Sprache namens Zuhause.

Fern im Hinterkopf schwappt ein Lied, 
patschend klatschend im Takt auf mütter­lichen Knien, 
kur më vjen burri nga stani,
in der Kehle ein Summen, das die Lippen nie verlässt. 

Die Reise vom Herzen zum Mund ist ein steiniger Aufstieg.

Gross­mutter, lebtest du noch, müsstest du mich schimpfen in dieser Sprache. 
Oder du würdest geduldig und sanft mit mir sitzen, 
den Geruch von Rosen­wasser im Haar, 
die Kette adrett um den Hals,
und mich zum Nachsprechen auffordern: 
Mirëdita.
Si je?
Mirë.
Te dua.

Was ist das?
Auge
Mund
Nase
Hände
Sprich mir nach. 

Über manche Dinge spricht man nicht,
egal in welcher Sprache. 
Die Vergan­genheit ist voller schwarzer Löcher,
in die bloss nicht reinzu­fallen ist. 

Gross­mutter, weisst du: 
Meine Lehrerin erkennt 
in meiner holprigen Aussprache 
deinen Dialekt.
Wie seltsam.
Das würde ich dir gerne erzählen. 

Ich schliesse die Augen
und die Stimme flüstert hinter der Schulter hervor: 
Lule Margherita!
So riefst du mich, 
deine Blume, deine Blüte, deine Sämchen,
die der Wind weit fort trug. 

Die Geschichte entgleitet den Fingern
und die Zukunft lässt auf sich warten,
während sich nutzlose Lippen zu nutzlosen Buchstaben formen,
sie so anein­ander reihen, dass sich vage Sinn manifestiert.
Gstabig
wie ein Kleinkind gehen lernt
oder wie jemand nach einem Unfall, 
Schritt für Schritt, einen Fuss nach dem anderen,
ganz sachte,
um sich nicht selbst zu erschrecken.

Die Augen blinzeln. 
Die Wangen röten sich.

Und langsam formen sich Worte. 

Eine Wieder­geburt der Sprache,
die sich hinaus­presst in eine Welt, 
in der sie zuhause ist.

 

  1. Laura Romina

    Hallo liebe Marguerite
    Was für berüh­rende Worte… Ich finde es so stark, dass du dich entschlossen hast für 6 Monate nach Tirana zu gehen!
    Jede/jeder Seconda/Secondo sollte dies einmal machen — ich bin sicher viele würden finden, von dem sie nicht einmal wissen, dass sie es suchen…
    Alles Gute!

  2. Irène Angela Sprenger

    Wunderbar seelen­be­rührend 💗

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