Artikel unserer Gastarbeiter*innen

Srebrenica – «Die westliche Welt hat die Lehren aus dem Holocaust komplett ignoriert»

Heute ist der 11. Juli – der Gedenktag des Völkermordes von Srebrenica. Dass es diesen Gedenktag gibt, verdanken wir der Organisation «Mütter von Srebrenica». Mit einem Interview der bosnischen Journalistin Nidžara Ahmetašević. 

Am 11.07.1995 marschierte die bosnisch-serbische Armee unter dem Kommando von Ratko Mladić in Srebrenica ein. In den kommenden Tagen wurden über 8’000 Bosniaken, also musli­mische Bosnier, von ihren Familien getrennt und von der bosnisch-serbi­schen Armee erschossen.

Srebrenica war zuvor, 1993, von den Vereinten Nationen zur so genannten «sicheren Zone» erklärt worden, weshalb viele Menschen aus den umlie­genden Ortschaften dort Schutz suchten. Die Enklave wurde jedoch von bosnisch-serbi­schen Einheiten beschossen. Als General Ratko Mladić am 11. Juli 1995 die Stadt einnahm, ahnten viele erwachsene und jugend­liche Männer, dass diese Ankunft für sie schlimme Folgen haben könnte. Sie flohen daraufhin zu Fuss in die umlie­genden Wälder, um im 100 Kilometer entfernten Tuzla Schutz zu suchen. Die meisten überlebten diesen Marsch nicht. Die entkräf­teten, ausge­hun­gerten Menschen wurden unter Mladic’s Kommando gejagt und erschossen.

Jene, die in einer alten Batte­rie­fabrik in Potočari, dem damaligen UN-Stütz­punkt unweit von Srebrenica, Schutz suchten, wurden der bosnisch-serbi­schen Armee kampflos übergeben. Die Familien wurden vonein­ander getrennt und die erwach­senen und jugend­lichen Männer syste­ma­tisch ermordet. Ihre Leichen wurden in Massen­gräbern vergraben. Um den Völkermord zu vertu­schen, wurden die Leichen teilweise wieder ausge­hoben, und die Toten an neuen Orten vergraben. Unter anderem deshalb werden bis heute oft keine vollstän­digen Skelette gefunden. Die Frauen und Kinder wurden indes angewiesen, in Busse zu steigen. Diese brachten sie in die bosnische Stadt Tuzla. Dort warteten sie vergeblich auf ihre Angehörigen. 

Die  «Mütter von Srebrenica»

Die Frauen, die ihre Söhne und Männer verloren hatten, schlossen sich zusammen und stehen seither gemeinsam für ihre Anliegen ein. Als «Mütter von Srebrenica» fordern sie, dass der Genozid aufge­klärt wird und die Verant­wort­lichen vor Gericht zur Rechen­schaft gezogen werden. Und sie möchten, dass weiter sterb­liche Überreste der Ermor­deten geborgen werden.

Ihre Beharr­lichkeit führte dazu, dass unweit von Srebrenica, in Potočari, die Gedenk­stätte «Srebrenica Memorial Center» und ein dazuge­hö­riger Friedhof für die Opfer errichtet wurden. Noch heute werden in den Wäldern um Srebrenica sterb­liche Überreste der Ermor­deten gefunden. Diese werden jedes Jahr am 11.07. Auf dem Friedhof der Gedenk­stätte beigesetzt. Dieses Jahr waren es die Überreste von 30 Menschen.

«Sie suchten nicht Vergeltung, sondern verlangten Gerechtigkeit.»

Die bosnische Journa­listin Nidžara Ahmetašević war 1995 im belagerten und umkämpften Sarajevo einge­schlossen, als sie das erste Mal von den «Müttern von Srebrenica» hörte. In einem Interview, welches auf dem YouTube- Kanal des «Fetisov Journalism Award» veröf­fent­licht wurde, erzählt Nidžara Ahmetašević von dem Moment, als sie das erste Mal von den «Müttern von Srebrenica» hörte:

«Ich war damals im umkämpften Sarajevo und hatte kaum Zugang zu Medien. Ich erinnere mich, dass die Frauen traurig und wütend waren. Doch etwas beein­druckte mich zutiefst: Die Art, wie sie über die Hölle sprachen, die sie erlebt hatten – sie suchten nicht Vergeltung, sondern verlangten Gerech­tigkeit, damit sich ein solch grausamer Völkermord nicht wieder­holte. Da reali­sierte ich, dies war eine Geschichte, über die ich mehr erfahren wollte.»

Als sie die «Mütter von Srebrenica» schliesslich traf, sei sie tief beein­druckt gewesen, von der Stärke und Ehrlichkeit dieser Frauen. «Wenn ich bei ihnen bin, habe ich stets das Gefühl, zu lernen. Ich fühle mich geehrt, Zeit mit ihnen zu verbringen. Die Art, wie sie Menschen an sich heran­lassen, und sie willkommen heissen, ist faszi­nierend – es sind unglaublich starke Frauen.»

«Die westliche Welt hat die Lektionen, die wir aus dem Holocaust gelernt haben, komplett ignoriert.»

Im selben Video wird Nidžara Ahmetašević gefragt, warum sie weiter über den Genozid in Srebrenica berichtet. Sie sagt: «Niemand sollte jemals aufhören, darüber zu berichten.»

Ich darf mit Nidžara sprechen, einen Tag bevor sich der Genozid von Srebrenica zum 28. Mal jährt. Am Telefon erzählt sie mir, dass sie weiter über den Genozid in Bosnien berichten wird. Das sei aus vielen Gründen wichtig: «Die westliche Welt, nennen wir es mal so, hat die Lektionen, die wir aus dem Holocaust gelernt haben, komplett ignoriert. Sie hat einen Genozid im Herzen Europas ignoriert.», erklärt sie. Trotz der Never-again-Bekund­nisse sei es zu einem Genozid gekommen. «Und während wir hier sprechen, finden in vielen anderen Ländern Kriegs­ver­brechen statt», fügt sie hinzu. Durch die Sprache und das Gedenken werde ein Bewusstsein für die Verbrechen geschaffen und daran erinnern. «Ich hoffe, dass sich die Nachricht von ‹Never again› endlich durch­setzen kann, in die Köpfe und Herzen der Menschen, sagt Nidžara.

Gleich­zeitig spiele Feminismus eine grosse Rolle in der Aufar­beitung des Krieges. Es sei deshalb wichtig, die Geschichten der Frauen zu erzählen. «Viele Dinge, die in Bosnien nach dem Krieg erreicht wurden, verdanken wir Frauen. Sie betrachten Probleme ganzheit­licher. Somit verstehen sie Probleme vielschich­tiger und haben oft einen umfas­sen­deren Zugang zu einer Thematik. Für die Mütter von Srebrenica seien alle Überle­benden gleich­wertig. Sie kämpfen für alle und solida­ri­sieren sich mit Opfern fernab von Bosnien. Sie kämpfen für eine menschen­würdige Welt.»

Was konntest du von den Müttern von Srebrenica› lernen?

«Sie zeigten mir, wie wichtig die Wahrheit ist, und lehrten mich, nicht nachlässig zu sein mit ihr. Frauen, die sich organi­sieren, können eine enorme Wirkung auf die Umwelt haben. Die ‹Mütter von Srebrenica› haben die Welt verändert, und tun dies bis heute. Ich sehe sie als eine Bewegung wie «Black Lives Matter» oder die Solida­ri­täts­be­wegung für Geflüchtete. Es ist eine der am besten organi­sierten Bewegungen. Seit beinahe 30 Jahren halten sie die Geschichte am Leben. Sie haben deutlich gemacht, dass es einen anderen Weg als Rache geben muss.»

Inwiefern hat diese Bewegung die Geschichte verändert?

«Sie beharrten auf die Existenz der Verbrecher des ehema­ligen Jugosla­wiens. Dadurch konnten gewisse Personen zur Rechen­schaft gezogen werden. Die ‹Mütter von Srebrenica› bestanden auf eine Erinne­rungs­stätte in der Nähe von Srebrenica. Der Gedenk­marsch «Marš mira» findet seit einigen Jahren statt, und es nehmen Menschen aus der ganzen Welt daran teil. Dies ist eine starke Botschaft gegen aussen. Sie waren tapfer genug die Nieder­lande anzuklagen, die die Verant­wortung für die nieder­län­di­schen UN-Blauhelm­sol­daten in Srebrenica trugen. Die ‹Mütter von Srebrenica› haben die Wahrnehmung auf den Genozid in Bosnien verändert.»

Auch wenn die «Mütter von Srebrenica» viel bewegt haben, gibt es trotzdem Leute, die den Genozid weiter leugnen.

«Ja. Es gibt immer Menschen, die solche Verbrechen leugnen. Betrachten wir als Beispiel den Holocaust. Der Holocaust ist umfänglich aufge­ar­beitet worden, und dennoch gibt es in Europa noch immer Leute, die behaupten, er hätte nie statt­ge­funden. Bei uns ist es ähnlich und wir stehen vor denselben Heraus­for­de­rungen. Wir müssen uns dessen bewusst sein und uns nach vorne bewegen.»

Der «Srebrenica Genocide Denial Report»

Auf der Homepage des «Srebrenica Memorial Center» erschien im Dezember 2022 der Srebrenica Genocide Denial Report 2022.

Der Bericht überwacht und analy­siert Fälle von Völkermord-Leugnung zwischen Mai 2021 und Mai 2022. Mittels quanti­ta­tiver Methoden wurden Daten aus den Medien gesammelt. Danach wurden diese einer inhalt­lichen und narra­tiven Analyse unter­zogen. Der Bericht bietet Empfeh­lungen für verschiedene gesell­schaft­liche Akteure, wie die Leugnung des Völker­mordes bekämpft werden kann.

Wie blicken Sie aktuell in die Zukunft, vor diesem Hintergrund?

«Wir müssen uns Gedanken darüber machen, was für eine Welt wir den nachkom­menden Genera­tionen hinter­lassen wollen. Wenn ich mir den Rest von Europa anschaue, mache ich mir grosse Sorgen. Da sind wir weit entfernt von «Never again». Werden der Rechts­rutsch und die Ungerech­tig­keiten nicht aufge­halten, fürchte ich mich davor, was in der Zukunft geschehen kann.

Proble­ma­tisch ist auch die Gleich­gül­tigkeit der Menschen. Um Verständnis fürein­ander zu schaffen, müssen wir einander zuhören. Geschichten bewegen etwas im Gegenüber. Wir müssen aus unseren Boxen ausbrechen und aufein­ander zugehen. So können wir begreifen, dass Srebrenica, der Völkermord auf dem Balkan, die Kriege auf der Welt, uns alle etwas angehen und mit uns allen zu tun haben.»

 

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