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Stefanie Claudine Boulila: «Schweizer Schulen werden als Ort für alle idealisiert»

Heute ist der internationale Tag der Bildung. Wir sprachen mit Dr. Stefanie Claudine Boulila über Chancengleichheit an Schweizer Schulen. Sie erklärt, wovon Bildungserfolg abhängt, wie Schulen Zugänge verweigern und was sich ändern muss, damit Chancengleichheit herrscht.

In der Schweiz spricht man häufig davon, dass alle Kinder die gleichen Chancen haben, später das zu werden, was sie sich wünschen – wenn sie nur genug lernen und gute Note schreiben. Was halten Sie von dieser Aussage?

Dieses merito­kra­tische Märchen wird angeführt, um das Bildungs­system, das soziale Ungleich­heiten repro­du­ziert, zu vertei­digen. Mit solchen Aussagen wird der Fokus verschoben. Weg von den Insti­tu­tionen, hin zur Eigen­ver­ant­wortung der Kinder und Jugend­lichen. Anstatt Insti­tu­tionen infrage zu stellen, stellt man die Schüler*innen infrage.

Sie sagen, dieses Märchen wird erzählt, um das Bildungs­system zu vertei­digen, welches soziale Ungleich­heiten repro­du­ziert. Wieso verteidigt man überhaupt ein System, das Ungleichheit reproduziert?

Ich denke, es ist eine Mischung aus Gleich­gül­tigkeit und Überfor­derung. Aber auch die Angst sich einzu­ge­stehen, dass überhaupt ein Problem besteht und man seine Arbeit vielleicht doch nicht so gut macht, wie man meint. Sich einzu­ge­stehen, dass etwas nicht funktio­niert, würde bedeuten, dass man seinen Glauben an das System grund­sätz­lichen infrage stellen müsste. Es ist einfacher, margi­na­li­sierten Gruppen, die bereits stereo­ty­pi­siert sind, den Ball zuzuschieben, als sich selbst zu hinter­fragen und sich einzu­ge­stehen, dass es struk­tu­relle Probleme innerhalb der Insti­tution gibt.

Das heisst also, reine Willens­kraft reicht nicht aus, um Erfolg in der Schule zu haben?

Die inter­na­tionale Forschung zeigt, dass Schul­erfolg massgeblich vom Zugang zu materi­ellen und immate­ri­ellen Ressourcen abhängt. Zu den materi­ellen Ressourcen gehört z.B., dass man genug Geld für eine grosse Wohnung hat, damit alle Kinder genügend Rückzugsorte haben. Immate­rielle Ressourcen sind aber genauso wichtig. Hier ist beispiels­weise das Bildungs­ka­pital der Eltern sehr wichtig. Sie können dann z.B. ihren Kindern bei den Hausauf­gaben helfen, oder gegenüber Lehrper­sonen und der Schule sicherer auftreten. Haben Eltern einen höheren Bildungs­hin­ter­grund, werden sie von Lehrper­sonen und Schul­lei­tungen ganz anders wahrge­nommen und behandelt.

In der Schweiz geht man immer noch davon aus, dass Rassismus ein Problem von Einzel­per­sonen ist.

Was sind die Ursachen von Vorur­teilen gegenüber Schüler*innen?

Rassi­sti­sches Wissen zieht sich durch die gesamte Gesell­schaft und macht natürlich auch vor der Schule nicht halt. In der Schweiz geht man immer noch davon aus, dass Rassismus ein Problem von Einzel­per­sonen ist. Der Straf­rechts­pa­ragraf bestärkt den Eindruck, dass Rassismus eine Ausnahme und eine Abwei­chung von der guten Norm ist und genau hier passiert der Denkfehler. Durch die europäische Koloni­al­ge­schichte und Natio­nal­staa­ten­bildung haben Rassismus und Xenophobie die Schweiz nachhaltig geprägt. Rassi­sti­sches und xenophobes Wissen, in der Form von Annahmen über bestimmte Menschen, ist in jedem Bereich unserer Gesell­schaft anzutreffen und dieses Wissen kann auch von Menschen, die sich nicht als rassi­stisch verstehen, repro­du­ziert werden. Gerade weil Rassismus und auch Xenophobie keine Ausnahme darstellen, ist es zwingend für die Chancen­gleichheit, dass sich Schulen sowie pädago­gische Hochschulen der Thematik annehmen.

Können Sie ein Beispiel nennen, wie Lehrkräfte unbewusst Rassismus repro­du­zieren können?

Zum Beispiel indem sie Kindern mit Migra­ti­ons­ge­schichte weniger zutrauen und tiefere Erwar­tungen an sie haben. Der schulische Erfolg wird ihnen nicht zugetraut oder sie werden schlechter einge­stuft. Wenn sie zum Beispiel eine andere Mutter­sprache sprechen, wird diese nicht als Ressource, sondern als Defizit wahrgenommen.

Viele von uns haben Lehrer*innen den Satz sagen gehört: Es ist besser, ein guter Realschüler zu sein als ein schlechter Sekun­dar­schüler. Was halten Sie von diesem Satz?

Dieser Satz zeigt die Norma­li­sierung von tiefen Erwar­tungen, welche man gegenüber Schüler*innen mit Migra­ti­ons­ge­schichte hat. Es ist ein gewalt­voller Akt des Gatekeepings.

Gatekee­pings?

Das ist, wenn man aktiv versucht zu kontrol­lieren, wer wo einge­stuft wird, und somit bewusst versucht, den Zugang zu verweigern. Ich kann mir auch vorstellen, dass wenn Schulen merken, dass Schüler*innen aus bestimmten sozialen Gruppen in einer bestimmten Schul­stufe unter- oder überver­treten sind, sie das als Beweis für bestimmte Stereo­typen nehmen und nicht als Indikation, dass die Insti­tution es nicht schafft, Ungleich­heiten auszugleichen.

Die Schweizer Volks­schulen werden als Ort für alle ideali­siert. Würde man jetzt sagen, wir haben ein Problem, würde das dieses ideolo­gische Konstrukt ins Wanken bringen.

In zahlreichen Inter­views erzählen uns unsere Protagonist*innen regel­mässig von Diskri­mi­nie­rungs­er­fah­rungen in der Schule. Gleich­zeitig entsteht oft der Eindruck, dass Schulen diese Wahrnehmung nicht teilen. Viele Schul­lei­tungen scheinen davon auszu­gehen, dass Vorur­teile und Rassismus an ihren Schulen kein Problem seien. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

Dass das Wort Rassismus im Lehrplan 21 nicht einmal vorkommt, ist eine Illustration des Problems. Es zeigt, dass Rassismus in der Imagi­nation von z.B. Bildungspolitiker*innen nicht existiert. Es herrscht kein Diskurs über die Thematik «Rassismus an Schulen». Die Schweizer Volks­schulen werden als ein «Ort für alle» ideali­siert. Würde man jetzt sagen, «wir haben ein Problem», würde das dieses ideolo­gische Konstrukt ins Wanken bringen. Hinzu kommt, dass es in der Schweiz, im Gegensatz zu anderen europäi­schen Ländern, kaum Forschung zu Rassismus an Schulen gibt, daher können wir das Problem auch nicht an die Politik heran­tragen. Auch an den relevanten Ausbil­dungs­orten, wie z.B. den Pädago­gi­schen Hochschulen, ist das Thema nicht verankert. Ich denke, viele Lehrper­sonen und Schul­lei­tungen wollen gegen Rassismus vorgehen, wissen aber nicht wie. Sie müssen hier von der Politik und auch von den Hochschulen unter­stützt werden.

Wieso wird in diesem Gebiet so wenig geforscht?

Die Rassis­mus­for­schung ist an Schweizer Univer­si­täten und Hochschulen schlecht verankert, obwohl es viele Nachwuchswissenschaftler*innen gibt, die sich der Thematik annehmen wollen. Rassismus wird oft als Randthema abgetan, weil, wie bereits erwähnt, man immer noch davon ausgeht, dass Rassismus etwas ist, das die Schweiz nicht tangiert. Die Forderung nach Rassis­mus­for­schung wird daher oft als ideolo­gisch oder als ein Trend abgewimmelt. Es bräuchte in den sozial­wis­sen­schaft­lichen Fächern Ressourcen, um diese Forschungs­lücke zu schliessen.

Dr. Stefanie Claudine Boulila ist Dozentin und Projekt­lei­terin am Institut für Sozio­kul­tu­relle Entwicklung der Hochschule Luzern und Mitglied der Jungen Akademie Schweiz. Ihre Lehr- und Forschungs­schwer­punkte sind Gender, LGBTIQ-Lebens­rea­li­täten, Rassismus und Inter­sek­tio­na­lität. Sie ist Autorin der 2019 erschie­nenen Monographie «Race in Post-racial Europe» (Rowman and Little­field International).

Sie sagen, dass Diskri­mi­nierung oft nicht auf indivi­du­eller Ebene, sondern in einem insti­tu­tio­nellen Rahmen statt­findet. Wie können Insti­tu­tionen nachhaltig umgestaltet werden?

Zum Beispiel mit Aktionsplänen.

Was sind Aktionspläne?

Aktions­pläne werden auf vielen verschie­denen politi­schen Ebenen genutzt. Es sind verbind­liche Mittel, welche z.B. Kantonen oder Gemeinden, aber auch Insti­tu­tionen zur Verfügung stehen, um beispiels­weise Ungleich­heiten in Schulen zu bekämpfen. Eine Hochschule könnte zum Beispiel auch einen Aktionsplan verabschieden.

Werden solche Pläne bereits verwendet?

Ja. Im Kanton Waadt gibt es beispiels­weise den Aktionsplan gegen Homo-und Trans­phobie an Schulen. In diesem Aktionsplan geht es konkret darum, Schul­per­sonen auf die Thematik zu sensi­bi­li­sieren und Schulen zu einem sicheren Ort für geschlecht­liche und sexuelle Minder­heiten zu machen.

Das heisst, eigentlich wäre es relativ einfach, Schulen nachhaltig zu verbessern?

Es gäbe sicherlich Wege, um Ungleich­heiten im Bildungs­be­reich konkret anzugehen. Ein Teil des Problems ist aber auch die Unter­re­prä­sen­tation von rassi­fi­zierten und migran­ti­sierten Menschen in Entschei­dungs­po­si­tionen. Die Rassis­mus­for­schung zeigt, dass es Personen, die nicht selbst rassi­stische und diskri­mi­nie­rende Erfah­rungen gemacht haben, schwerer fällt, rassi­stische Muster in einem System zu erkennen. Hätten wir z.B. mehr Schulleiter*innen, Lehrer*innen oder Bildungspolitiker*innen, die solche Erfah­rungen gemacht haben, dann hätten wir eine reichere Grund­haltung, die eben auch die Perspektive von Betrof­fenen spiegelt.

Was kann die Politik tun, um die Chancen­gleichheit im Bildungs­be­reich sicherzustellen?

Sie könnte zum Beispiel Aktions­pläne für Schulen anordnen. Das Gute an Aktions­plänen ist, dass man darüber sehr konkrete Massnahmen umsetzen kann. Man könnte Fachper­sonen, die in der Schule arbeiten, wie Lehrkräften, Schul­lei­tungen, aber auch dem admini­stra­tiven Personal, Weiter­bil­dungen im Bereich Antiras­sismus ermög­lichen. Auch könnte man konkret gegen Bildungs­ma­te­rialien mit rassi­sti­schen Darstel­lungen im Unter­richt vorgehen und Schulen dabei unter­stützen, Bildungs­ma­te­rialien anzuschaffen, die Diver­sität abbilden. Zudem könnten auch Beschwerde- und Konflikt­lö­sungs­pro­zesse etabliert werden.

Wann kann man von einer echten Chancen­gleichheit sprechen? Können Sie uns ein Beispiel geben?

Ein Schweizer Beispiel, aller­dings aus dem infor­mellen Bildungs­be­reich, bezie­hungs­weise der offenen Jugend­arbeit, ist der Fachbe­reich Mädchen*arbeit des Träger­vereins für die offene Jugend­arbeit der Stadt Bern. Orien­tiert an einem inter­sek­tio­nalen Ansatz, der sich auf femini­stische und antiras­si­stische Prinzipien stützt, werden hier Mädchen, junge Frauen und nicht-binäre Personen bei Bildungs­pro­zessen unter­stützt, beraten und in parti­zi­pative Projekte eingebunden.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

 

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