Laut einem Artikel der NZZ hätten «Albanischsprachige» einen tieferen Bildungsgrad als die Durchschnittsbevölkerung – damit erklären sich die Autoren eine tiefere Impfquote. Gastarbeiterin Drilona hat die zitierte Studie unter die Lupe genommen.
Vor mehr als zwei Wochen erschien ein äusserst provokativer und despektierlicher NZZ-Artikel mit folgender Überschrift: «Warum die Albaner in der Schweiz Impfmuffel sind – und wie sich das ändern soll»
Der Titel verspricht einen weiteren Seitenhieb gegen die gesamte albanische Bevölkerung in der Schweiz. Insbesondere das unten eingefügte Zitat sorgt für Bestürzung:
Welch ignorante, im Kollektiv diskriminierende und abwertende Äusserung. Diese Formulierung ist auf mehreren Ebenen inadäquat und suggeriert, dass alle Albanischsprachigen bildungstechnisch unter dem Bevölkerungsdurchschnitt liegen. Solch feindliche Aussagen sind inakzeptabel und schaden dem sowieso schon gesellschaftlich abqualifizierten und fragilen Ruf der Albaner*innen in der Schweiz.
Woher nimmt sich die NZZ das Recht, solch ein generalisiertes Statement über Albaner*innen zu machen? Ist dies die Aussage der Studie oder eine Eigeninterpretation der NZZ-Autoren beruhend auf bestehende Misskonzeptionen über Albaner*innen? Ich habe bei der NZZ nachgefragt und folgende Antwort erhalten: «Wir können deinen Ärger verstehen, aber diese Aussage stammt nicht von uns, sondern das zeigen Auswertungen des Bundes. Wir schreiben nicht, dass alle Albanerinnen und Albaner dumm sind, sondern wir schreiben, dass das durchschnittliche Bildungsniveau tiefer ist als bei den Schweizerinnen und Schweizer. Das ist weder abwertend noch diskriminierend gemeint.» (NZZ-Korrespondenz vom 10.09.2021)
Spricht man abwertend über eine Gruppierung von Menschen im Allgemeinen, so ist dies per Definition diskriminierend.
Interessant. An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die Textpassage aus dem NZZ-Artikel verweisen und im Besonderen den zweiten Satz hervorheben: «Dies gilt erst recht bei Ausländern, und die Albanischsprachigen in der Schweiz haben einen tieferen Bildungsgrad als die Durchschnittsbevölkerung.» (NZZ-Artikel vom 25.08.21)
Der Abschnitt ist aus mehreren Gründen problematisch. Einerseits ist im Text von «Albanischsprachigen» die Rede, was bedeutet, dass sich die Autoren an dieser Stelle auf eine gesamte Bevölkerungsgruppe beziehen, welche Albanisch spricht. Im Text ist nicht die Rede vom «durchschnittlichen» Bildungsniveau der Albaner*innen sondern vom Bildungsgrad der «Albanischsprachigen» insgesamt. Spricht man abwertend über eine Gruppierung von Menschen im Allgemeinen (in diesem Fall über Albanischsprachige), so ist dies per Definition Diskriminierung. Die Aussage ist also in nicht misszuverstehender Deutlichkeit sehr wohl abwertend und diskriminierend.
Von «Albanischsprachigen» oder allgemein «Ausländern» ist in der angegebenen Studie nie die Rede.
Ich war so frei und habe mir das öffentliche Dokument des Forschungsinstituts Sotomo, an das sich die NZZ anlehnt, angesehen. Sotomo (2021) bezieht sich in der Auswertung der Umfrage hinsichtlich der Covid-Impfung auf die gesamte Bevölkerung in der Schweiz, losgelöst von der Nationalität. Von «Albanischsprachigen» oder allgemein «Ausländern» ist in der angegebenen Studie nie die Rede.
Wie erklärt sich die NZZ diese Diskrepanz? Auf Nachfrage hin, habe ich folgende Antwort erhalten: «Die Angaben zum Bildungsstand stammen nicht von Sotomo, sondern vom Bundesamt für Statistik. Dort wird in einer Studie jedes Jahr der Grad des Bildungsabschlusses der Schweizer Bevölkerung aufgeschlüsselt nach verschiedenen Kriterien, bspw. Wohnort, Alter oder Herkunft.» (NZZ, Korrespondenz vom 10.09.2021)
Die Statements der NZZ sind nicht kohärent.
Schön und gut. Doch hier kommen wir zu einem weiteren Problem: Dass die Informationen vom Bundesamt stammen, kann dem publizierten NZZ-Artikel nicht entnommen werden. In der Textstelle wird Sotomo als Quelle angeben; in der Korrespondenz der Bund. Was denn nun? Die Statements der NZZ sind nicht kohärent. Solange die Studie und deren konkrete Aussage nicht korrekt zitiert werden, handelt es sich lediglich um eine subjektive Interpretation der drei Autoren.
Die Ansprechperson der NZZ vertröstet mich anschliessend mit folgendem Satz: «Da ich nicht der Autor des Textes bin, leite ich die Kritik 1:1 weiter und ich melde mich, wenn ich eine Antwort habe.» (NZZ-Korrespondenz vom 10.09.2021) Ich habe bis heute keine Antwort mehr erhalten.
Eine Recherche auf der Website des Bundesamtes für Statistik führt tatsächlich zu einer Studie über den Bildungsstand der Bevölkerung im Jahr 2020. Der Bildungsstand der 25–64-Jährigen wird allerdings auch hier nicht nach einzelnen Nationalitäten aufgeführt. Es ist lediglich von Schweizer*innen, Eingebürgerten und Ausländer*innen die Rede – nicht von «Albanischsprachigen». Interessant ist, dass der Anteil Hochschulabsolventen bei Ausländer*innen und Eingebürgerten höher liegt, als es im Artikel der NZZ den Anschein macht.
Eine weitere Studie, die im Jahr 2010 vom Staatssekretariat für Migration veröffentlicht wurde, befasst sich tatsächlich mit der «kosovarischen Bevölkerung in der Schweiz». Doch auch hier wurde nicht der Bildungsstand der Kosovaren, geschweige denn der «Albanischsprachigen» per se, erfasst, sondern der Bildungsstand der Bevölkerung aus «Kosovo, Serbien und Montenegro» insgesamt. Anmerkung: In Montenegro und Serbien wird grösstenteils nicht Albanisch gesprochen. Darüber hinaus stützt sich der im Jahr 2010 erschienene Bericht zu einem grossen Teil auf die Volkszählung von 2000. Sollte sich die NZZ nun tatsächlich dieser Zahlen bedient haben, stützt sie sich auf über zwei Jahrzehnte alte Daten, um eine aktuelle Pandemie zu erklären.
Im Artikel scheinen somit verschiedene Studien, welche unterschiedliche Fragestellungen verfolgen, übereinander gelegt worden zu sein, um ein abschliessendes Statement zu allen Albanischsprachigen zu machen. Abschliessend lässt sich also sagen, dass der von der NZZ geschilderte kausale Zusammenhang zwischen Albaner*innen, deren Bildung und Impfbereitschaft in der zitierten Quelle Sotomo nicht gegeben ist. Sollte die Aussage tatsächlich vom Bundesamt stammen, was ich bezweifle, so manifestiert sich hier ein grundlegendes politisches Problem: Die Bestätigung einer institutionellen Diskriminierung.
Im Artikel scheinen somit verschiedene Studien, welche unterschiedliche Fragestellungen verfolgen, übereinander gelegt worden zu sein.
Somit stellt dieser Artikel einen bewussten, manipulativen Versuch dar, die vorhandenen Vorurteile, Stereotypen und diskriminierenden Ansichten der Autoren mittels falsch zitierten Studien zum Ausdruck zu bringen. Die reflektierte Leserschaft vermag diese Art von Propaganda allerdings zu identifizieren und erkennt darin vor allem das Armutszeugnis einer einst renommierten Zeitung.
Sehr guter Artikel. Die NZZ hat schon seit Jahren ihre Qualität verloren. Das fällt auch in Zusammenhang mit anderen Themen auf.
Danke für den Artikel, dem ich inhaltlich voll zustimme.
Ein Detail dazu — das Meinungsforschungsinstitut heisst „Sotomo“ und nicht „Somoto“, oder?
Da es auch in der zitierten NZZ-Korrespondenz so geschrieben wurde, liegt vielleicht eine falsche Autokorrektur vor.
Beste Grüsse,
Mia
Hallo Mia, herzlichen Dank für den Hinweis, wir haben die Korrektur vorgenommen.
Wow danke für diese Recherche und das Engagement!