Melancholische Klänge aus der Heimat seiner Eltern haben ihn ein Leben lang begleitet. Gastautor Anıl Özdemir darüber, wie Musik Zugehörigkeit schafft und weshalb er noch heute auf der Suche nach Melancholie ist.
Im Gymnasium spielte ich die Querflöte. Wie viele andere Kinder auch hatte ich kein grosses Interesse daran, mich in der Freizeit hinzusetzen und ständig zu üben. Einerseits, weil es nicht anders zum Kind- und Teenagedasein gehört, andererseits weil die Musik, die ich spielen und üben sollte, mich nicht gross interessierte.
Im Unterschied zu hiesiger Popmusik sind die türkischen Texte sehr viel kraftvoller, tiefer und intimer.
Meine Musiklehrerin war umso überraschter, dass ich ein melancholisches Stück, welches sie mir vorgeschlagen hatte, nach nur einer Woche auswendig und fast perfekt spielen konnte. Die Mollklänge des Stücks sprachen mich viel direkter an und berührten mich emotional. Ohnehin spielte ich zu Hause nicht jene Lieder, die sie mir vorschlug, sondern versuchte bekannte Volkslieder aus der Türkei nachzuspielen – ohne Notenblatt. Z.B. Yiğidim Aslanım von Zülfü Livaneli, das auf einem Gedicht von Rahmi Eyüboğlu basiert und vom türkischen Dichter Nazım Hikmet handelt. Das Lied wurde zu einer Ağıt, einem Klagelied, das bei der Beerdigungszeremonie des ermordeten Investigativjournalisten Uğur Mumcu gespielt wurde und später auch bei weiteren Zeremonien ermordeter Journalisten und Politiker gespielt werden sollte.
Ich kann mich sehr gut an meine Kindheit erinnern. Als jüngster Sohn einer fünfköpfigen Familie durfte ich zu Hause bei meiner Mutter bleiben, während meine Schwester und mein Bruder schon zur Schule mussten. Bei der Hausarbeit hörte meine Mutter oft Popmusik von Sezen Aksu oder Arabesk von Coşkun Sabah und İbrahim Tatlıses, die meistens von gescheiterten Romanzen, der grossen (unmöglichen) Liebe und vom Leid des Lebens sangen. Im Unterschied zu hiesiger Popmusik sind die türkischen Texte sehr viel kraftvoller, tiefer und intimer, auch in der kommerziellen Popmusik, der Volksmusik und den zahlreichen Indie-Genres.
In der anatolischen Volksmusik werden Gedichte und alevitisch-religiöse Texte zitiert und mit der Musik neuinterpretiert. Sehr ähnlich ist es in der persischen Musik, wo Musiker, wie z.B. Mohsen Namjoo, in ihren Songs Gedichte von Hafez oder Rumi zitieren. Ohnehin vermischen sich die Klänge, Progressionen, Rhythmen und Texte traditioneller Volkslieder, die aus der Region stammen. Armenische und kurdische Volkslieder werden auf türkisch, persisch und anderen Sprachen gesungen, teilweise neu arrangiert, je nach Gefühlslage noch trauriger oder fröhlicher gespielt. Die Musik migriert vom Osten in den Westen und wieder zurück. In der türkischen Musik geht es um die oft (schmerzhafte) innige Liebe, eine schmerzhafte Trennung, Sex, Erotik oder Einsamkeit.
Bak yüreğime bak, ateşimi gör, içimi hisset
Hadi hazırım yeter ki onursuz olmasın aşk
Ölürüm yoluna ölürüm de yine boyun eğmem
Yakarım dünyayı uğruna ama sana eğilmem
Text: Sezen Aksu
Um das prominenteste Beispiel aus der kommerziellen türkischen Popmusik zu nennen: Der Export- und Superstar Tarkan, der in der Türkei nach wie vor sehr populär ist und zahlreiche Alben produziert, wurde Ende der 90er-Jahre auch in den westlichen Radios gespielt. Die Single Şımarık kletterte an die Spitzen westlicher Pop-Charts und erhielt 1999 den World Music Award in Monaco. Einige seiner Songs wurden auch von Sezen Aksu geschrieben, auch seine Songs handeln von der Liebe, Sex, Erotik und Einsamkeit.
Belindeki kemer olayım
Saçındaki toka olayım
Nefesin olup içine dolayım
İste kölen olayım
Text: Tarkan Tevetoğlu
Zu Hause hatten wir auch Kassetten von Musiker*innen, die sehr politische, sozialkritische und auch revolutionäre Lieder sangen, wie z.B. Selda Bağcan, Cem Karaca, Aşık Mahzuni Şerif, Ahmet Kaya oder Ferhat Tunç. Die Songs sind derb und erzählen vom unendlichen Leiden der anatolischen Völker. Es geht um das bittere Überleben, das Leiden in ländlichen Gebieten, die Missstände von Arbeitern in Fabriken oder bei den ländlichen Kleinbauern sowie die Unterdrückung von Minderheiten. In den Texten erkennt man die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, das ist eine Art der Karnevalisierung der Ordnung, die sich auch Weltreligionen zum essentiellen Narrativ gemacht haben – heute sind wir die Unterdrückten, morgen werden wir die Gewinnenden sein.
Şöhretten bunalmış dilleri yazma
Kendi bahçendeki gülleri yazma
Haksız yere genç öldüren elleri yazma
Doğuda doktorsuz ölen kulları da
Yaz yaz gazeteci yaz
Yaz yaz efendi yaz
Text: Ali Sultan
Das Vererben der Melancholie und die Sehnsucht
Die Depression und Melancholie können genetisch vererbt werden. Es ist jedoch die Kunst und Lyrik, mit der wir die Freude und den Schmerz ganzer Gesellschaften weitervererben. Ähnlich wie bei der Suche nach der Liebe, suchen wir nicht nur die Liebe, Freude und Zuneigung in unseren Partner*innen, sondern oft auch ein melodramatisches Gefühlsfeld, wie wir es zuhause, durch unsere ersten Beziehungen in der Familie gelernt haben. Diese Gefühle werden gestärkt von der Kultur, in der wir aufwachsen: Die Sprache, Musik und Kunst der Heimat prägen uns zutiefst, bevor wir überhaupt ein Bewusstsein dafür entwickeln.
Mit Kunst und Lyrik vererben wir die Freude und den Schmerz ganzer Gesellschaften.
Ich wurde in meinem Leben für meine politischen Ideale und mein gesellschaftliches Verständnis noch nie politisch verfolgt. Trotzdem berührt es mich zutiefst, wenn ich Ahmet Kayas Interpretation eines Gedichts lese, das von einem zum Tode verurteilten Studenten (als Brief an seine Mutter) geschrieben worden ist. Ich lese Bücher und Gedichte aus der Zeit, in der mein Vater ebenso politisch verfolgt wurde, in Untersuchungshaft kam und seine Heimat verlassen musste, wie hunderttausende andere beim Militärcoup am 12. September 1980.
Diese Gedichte berühren mich und nehmen mich emotional mit. Es ist eine Melancholie, die über die Geschichten der Eltern, die Nachrichten aus der Heimat, über die Musik und die Lyrik an nächste Generationen weitergegeben wird. Diese Volkslieder aus dem 20. Jahrhundert haben heute kaum an Bedeutung verloren. Noch immer flüchten Millionen von Menschen vor Kriegen, werden politisch verfolgt und unterdrückt, und müssen ihr Leben in der Heimat verlassen, um sich woanders ein Neues zu schaffen.
Für Menschen wie uns, die ihre Heimat an mindestens zwei verschiedenen Orten wissen, ist dieser Zustand eine Mischung aus Fiktion und Realität. Gewisse von uns haben diese politische Unterdrückung nie oder nur indirekt gespürt, sind als kleine Kinder in ein fremdes Land gezogen oder wurden direkt da geboren. Doch wir leiden und fühlen dennoch mit. Oft es ist es Teil der Familien- und Gesellschaftstraumata, die den nächsten Generationen weitergegeben werden.
Ich suche oft nach dieser vertrauten Melancholie.
Das ist mehr als nur Empathie, dahinter steckt eine Melancholie, die fast schon gefeiert wird und in der Musik geprägt ist von Mollklängen. Ich suche oft nach dieser vertrauten Melancholie und finde sie in der Musik wieder, wo die traurigen Melodien oft auf bittere Realitäten treffen. Diese Suche nach der Melancholie und die Wahrnehmung der Heimat(losigkeit) ist eine Suche nach Zugehörigkeit, die natürlich fiktiv sein darf.
Die Suche nach Zugehörigkeit ist aber nicht nur etwas Trauriges und von Mollklängen geprägt. Denn wenn gefunden, bedeutet Zugehörigkeit Geborgenheit. Zugehörigkeit ist Esprit, Humor, Ironie, Freude, Glück und Weltschmerz. Die Portugiesen nennen es Saudade, wir haben den Rembetiko, den Çiftetelli und unsere Volksmusik, wenn wir am Abend Rakı trinken, laut mitsingen, mit den Fingern laut schnipsen, tanzen (göbek atmak) und uns nach dieser Geborgenheit sehnen.
Zugehörigkeit ist seiner Geliebten auf Deutsch «ich liebe dich» zu sagen, um danach die Liebe mit einem Zitat aus einem türkischen Gedicht oder Song zu unterstreichen, sie nochmals intimer zu vermitteln und sie so selbst umso inniger zu erfahren. Zugehörigkeit ist mit gleichsprachigen Freundinnen und Freunden auf Deutsch zu sprechen, um dann in die erste Muttersprache zu wechseln, mitten im Satz, oft willkürlich, dann wieder bewusst und pointiert. Zugehörigkeit ist ein kurzer zufälliger Augenblick zwischen Menschen, die zweisprachig aufgewachsen sind, und die sich stillschweigend verstehen und dabei herzlich lachen, weil die Situationskomik nur in der ersten Muttersprache erkennbar und witzig ist und nicht in der zweiten.
Zugehörigkeit ist seiner Geliebten auf Deutsch «ich liebe dich» zu sagen, um danach die Liebe mit einem Zitat aus einem türkischen Gedicht oder Song zu unterstreichen.
Zugehörigkeit ist beim Lernen auf die nächste Prüfung House-Musik im kommerziellen Radio zu hören, plötzlich einen leichten Wind am Nacken zu verspüren, den Fokus zu verlieren, und für einen Augenblick zu spüren, wie die Zeit stillsteht, nur um danach herauszufinden, dass die Produzenten eines der wichtigsten Musikstücke von Ali Ekber Çiçek (Haydar Haydar), das für die Bağlama komponiert worden ist, für den Song gesampelt haben. Zugehörigkeit ist Chefkets Deutschrap zu hören, und sich sofort damit zu identifizieren, wenn er «ich treff immer den Ton, doch der ist leider im Moll» rappt.
Die kokettierenden Klänge und Rhythmen aus dem Balkan, die in der serbischen, bosnischen, albanischen, mazedonischen, griechischen, arabischen, jüdischen (Mizrahi oder Sephardi) und anatolischen Volksmusik gespielt werden, bedeuten für mich und meinesgleichen Geborgenheiten – ja schon fast kleine individuelle aber auch gemeinsame glückliche, sichere Gefühle und Wärme.
Das ist einer der Gründe, warum ich im Gespräch mit Freundinnen und Freunden, die nicht Türkisch sprechen, oft die bildliche Sprache oder Sprichwörter aus dem Türkischen zu vermitteln versuche («im Türkischen sagt man…») – um sie so gut es geht an meinen Gefühlen teilhaben zu lassen. Es geht darum, die Emotionen, die ich in diesen Situationen verspüre, und die nur in dieser Sprache benamst werden können, auch tatsächlich wiederzugeben.
Wenn wir türkische Musik hören, übersetze ich die Texte meistens auf Englisch oder Deutsch und spüre die eindrucksvollen und leuchtenden Blicke meiner Freundinnen und Freunde, die mir stillschweigend vermitteln: «Shit, that’s dope!» Lustigerweise erlebe ich in diesen Momenten die Lieder immer wieder neu, da ich sie in meinen eigenen Worten übersetze.
Das kulturelle Erbe und die Sehnsucht nach kulturellem Reichtum
Hane bedeutet Haus, die jazzhane ist das Jazzhaus. Mit der jazzhane fokussieren wir uns auf Musik, die im Osten ihren Ursprung hat und entlang der Seidenstrasse entstanden, wiederentdeckt und neu interpretiert worden ist und sich mit der Migration weltweit verbreitete: von Indien bis hin zum Balkan und wieder zurück. Musik, die vorrangig aus dem Osten und Süden stammt, mit einer stolzen Prise Westen und Norden.
Die jazzhane ist ein Versuch einer Antwort auf unsere Sehnsucht; Sehnsucht nach östlichen Klängen, der Saz, Bağlama und Tambur, der Bouzouki, der Oud, Kanun (Zither) und unregelmässigen Rhythmen, Sehnsucht nach Melancholie, Weltschmerz, Liebe, Leiden und Freude; Sehnsucht nach Geborgenheit und Wärme.
Andere treten auch hier in der Schweiz auf, jedoch oft in Lokalen, die vielen Menschen nicht zugänglich sind.
In der Schweiz können wir den kulturellen Reichtum und die Diversität der Kunst unserer Heimat kaum abbilden, obschon die Sehnsucht danach da ist. Oft schaffen es nur Superstars aus der kommerziellen Popmusik und landen in der Clubszene der Agglomeration, während Künstler*innen der Indie- oder World-Music-Genres (Türkisch: Özgün Müzik oder Evrensel Müzik), die in der Türkei und in anderen Ländern unglaublich beliebt sind, seltener eingeladen werden. Künstler*innen und Bands, wie z.B. Aynur Doğan, Baba Zula, Gaye Su Akyol, Lalalar, Ayyuka, Kolektif İstanbul und andere treten auch hier in der Schweiz auf, jedoch oft in Lokalen, die vielen Menschen aus verschiedenen Gründen nicht zugänglich sind.
In den letzten Jahren wurde die anatolisch-psychedelische Musik regelrecht neu geboren. Das hat verschiedene Gründe. Die Musikindustrie ist sehr schnelllebig und mit allgegenwärtigen Kommunikationsmitteln global vernetzt. Der Zugang zur Musikproduktion ist günstiger geworden, die Distribution wurde vereinfacht, auch wenn die Auswahl stark von Algorithmen der grossen Streamingplattformen und Gatekeepern abhängig ist.
Einerseits entdeckten Produzent*innen aus dem Westen (z.B. Mos Def) die Musik für sich oder mischten die psychedelischen Klänge von Selda Bağcan mit Hip Hop in ihre Live-Dj-Sets (z.B. Dj Lefto). Andererseits wagten sich auch Musiker*innen aus der Türkei, Altes neu zu entdecken und neu zu interpretieren: Gaye Su Akyol ist genauso mit Selda Bağcan aufgewachsen wie mit Kurt Cobain und versucht das in ihrer Musik widerzuspiegeln.
Die psychedelische Rockband Lalalar spielt Neset Ertaş’ Gönül Dağı, ein zutiefst melancholisches Liebeslied, in einer punkigen und rockigen Version. Jüngere Künstler*innen schaffen es aus dem alten puristischen und schon fast akademischen Wiedergeben traditioneller Volkslieder wegzukommen und diese mit neuen, elektronischen Klängen zu vermischen. Daraus entsteht sehr viel spannende Musik, die es bis in die (kommerzielle) House- und Techno-Musik geschafft hat. Ricardo Villalobos (İnsanlar — Kime ne) oder Acid Pauli (Katip Arzuhalim von Selda Bağcan) mischen türkisch-anatolische Klänge in ihre Remixes mit ein, Oceanvs Orientalis fokussiert seine Musik fast gänzlich auf den Osten und mischt anatolische Volkslieder mit House-Musik.
Eine neue Möglichkeit, Musik aus dem Osten hautnah mitzuerleben, bietet sich am 29. April 2022 im Moods Jazzclub in Zürich. Der Abend widmet sich vollständig der anatolisch-psychedelischen Musik und verspricht eine Reise durch Raum und Zeit. Beginnend mit einer historischen Zeitreise, wird der Autor und Poet Daniel Spicer (Brighton, Grossbritannien) aus seinem Buch «The Turkish Psychedelic Music Explosion: Anadolu Psych 1965–1980» lesen und ein gemütliches Gespräch mit Hayat Erdoğan (Co-Direktorin des Theater Neumarkt) führen.
Danach werden die Gäste zurück ins 21. Jahrhundert katapultiert: Die schamanistische Techno-Folk Band İnsanlar mit Multiinstrumentalist Cem Yıldız (Bağlama) und Dj Barış K (Electronics) spielen ihr Live-Konzert. An der Afterparty ist Queer Dj İpek (İpek İpekçioğlu) an der Reihe. Sie hat mit Eklektik Berlinistan einen Style entwickelt, der für einzigartige und hybride Soundmixes steht: Psychedelischer Turkish Funk trifft auf Disco, Balkanfolk auf House, kurdischer Halay auf Elektro, türkischer Tango auf Break Beat, Bhangra auf Moombahton, albanischer Pop auf Twerk, iranischer Folk auf Techno und anatolische Volkslieder auf Deep-House. Die Presse nannte İpek eine musikalische wie politische Visionärin, deren eklektizistische Entdeckungsreisen in ein Land der krassen gesellschaftlichen Umbrüche führen, jenseits von Klischees und bekannten Pop-Exporten. Die jazzhane soll demnach ein Ort der Begegnung werden, weil wir so unendlich viele Gefühle aus unseren Heimaten über Grenzen hinweg teilen.
PS: Die Lieder habe ich bewusst nicht übersetzt. Jeglicher Versuch einer schriftlichen Übersetzung würde kläglich scheitern. Darum: Fragt eure Freundinnen und Freunde das nächste Mal, was gesungen wird, wenn ihr türkische, albanische, griechische, serbische, kurdische, sephardische, armenische, arabische, persische, jüdische oder indische Musik hört. Es wird sich lohnen!

Playlist Spotify:
Zülfü Livaneli — Yiğidim Aslanim
Levent Yüksel — Yeter Ki Onursuz Olmasın Aşk
Tarkan — Salına Salına Sinsice
Selda Bağcan — Yaz Gazeteci Yaz
Interessanter Bericht🤩👏🏽🎵🎶