Mehrere tausend Menschen stecken unter katastrophalen Bedingungen in Flüchtlingslagern an der bosnisch-kroatischen Grenze fest. Mit dem Eintreffen des Winters könnten sie sich bald in Lebensgefahr befinden. Die EU und die Schweiz sehen zu.
Im Sommer 2018 machte Ungarn unter der Regierung von Victor Orban seine Grenzen dicht und schloss somit die sogenannte Balkan-Route. Orban verabschiedete weiter ein Gesetz gegen Flüchtlingshilfe-Organisationen – Flüchtlingshelfern galt ab sofort bis zu einem Jahr Gefängnis für «Beihilfe zur illegalen Migration». Da sich die politischen Konflikte in Syrien, Afghanistan und Pakistan allerdings nicht einfach in Luft auflösten, versuchen die Flüchtenden seither über Bosnien-Herzegowina nach Kroatien in die EU zu gelangen.
Als die ersten Flüchtlinge vor anderthalb Jahren in das Städtchen kamen, wurden sie zunächst warmherzig von der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung empfangen. Viele sahen sich wohl an den Bosnienkrieg erinnert, der zwischen 1992 und 1995 rund 100’000 Menschen das Leben kostete und zwei Millionen zur Flucht in umliegende Länder zwang. Mittlerweile hat sich die Stimmung jedoch entscheidend verschlechtert. So berichten örtliche Medien von zahlreichen Kriminellen und Terroristen unter den Flüchtenden und schüren so Ängste bei den Einwohnern. Offiziellen Zahlen zufolge wirkte sich die Ankunft der Flüchtlinge allerdings kaum auf die Kriminalitätsraten in der Region aus.
Viele Bewohner sahen sich wohl an den Bosnienkrieg erinnert.
Seit der Verschiebung der Balkan-Route haben ungefähr 30’000 Flüchtende Bosnien durchquert. Etwa 35% stammen aus Pakistan, der Rest mehrheitlich aus Afghanistan und Syrien. Durch das harte und oft gesetzwidrige Eingreifen der kroatischen Grenzpolizei werden die Flüchtlinge nun an der Weiterreise nach Kroatien und somit in die EU gehindert. Tausende Menschen stauen sich an der bosnisch-kroatischen Grenze und leben oft in überfüllten Notunterkünften unter teils extrem prekären Bedingungen.
Das Flüchtlingslager auf der Mülldeponie
Das Flüchtlingszentrum Vučjak hat in den letzten Monaten unentwegt für Schlagzeilen gesorgt. Das Camp wurde zirka zehn Kilometer ausserhalb von Bihać auf einer ehemaligen Mülldeponie errichtet. Die umliegenden Wälder sind voll von aktiven Minenfeldern – Überbleibsel aus dem Krieg. Ursprünglich für etwa 400 Leute gedacht, wohnen momentan etwa 1’300 Menschen im Camp. Zeitweise waren es bis zu 2’500.
Corinne Ambler von der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften hat das Camp letzte Woche besucht und schildert was sie sah. «Die dünnen Plastikzelte sind undicht und verschimmelt und auf dem Boden, wo die Menschen schlafen, sind Pfützen. Es gibt keine Toiletten, kein fliessendes Wasser, keinen Strom. Aufgrund der fehlenden Infrastruktur und der Überfülle an Menschen sind die hygienischen Bedingungen im Camp miserabel und es herrscht erhöhtes Risiko für Erkrankungen. 80 Prozent der Bewohner haben Krätze und sehr viele sind bereits an Tuberkulose und Hepatitis erkrankt.»
«Auf dem Boden, wo die Menschen schlafen, sind Pfützen. Es gibt keine Toiletten, kein fliessendes Wasser, keinen Strom.»
Laut Corinne Ambler könnte es mit Einbruch des Winters zu einer humanitären Notlage kommen, sollten die Flüchtlinge nicht sehr bald in angemessene Unterkünfte umgesiedelt werden. «Ich möchte nicht unnötig Panik verbreiten, aber es könnten Menschen sterben, wenn sie den Winter im Camp verbringen müssen.» Die Bewohner verbrennen jetzt schon Plastik und allerlei Gegenstände, um warm zu bleiben. Sie haben keine angemessene Kleidung, manche nicht einmal feste Schuhe. «Vučjak ist kein Ort zum Leben, weder für Menschen noch für Tiere.»
Victor Lacken / IFRC
Das Rote Kreuz versucht den Bewohnern vor Ort die nötigste medizinische Versorgung und Verpflegung zu bieten, doch die Mittel reichen nicht aus. Die spärlichen finanziellen Ressourcen, über die die Leiter des Lagers verfügen, kommen vorwiegend von lokalen Spenden. Die UNO unterstützt das Camp nicht, da sie die Lage auf einer Müllhalde sowie die fehlende Infrastruktur nicht gutheisst. Am 1. Oktober 2019 erklärte der UN-Sonderberichterstatter zu den Menschenrechten von Migranten, Vučjak sei «absolut ungeeignet und unzureichend um Menschen unterzubringen». Des Weiteren forderte die UNO, dass die Bewohner des Vučjak-Lagers so bald wie möglich woanders untergebracht werden. Das Lager würde internationalen humanitären Standards nicht gerecht werden.
Überforderte Behörden
Die bosnische Regierung spurte. Ende Oktober kündigte Sicherheitsminister Dragan Mektić an, Vučjak werde geschlossen. Die Schliessung sollte am 15. November vollzogen und die Bewohner in eine andere Einrichtung transferiert werden. Doch seither hat sich an der Lage wenig verändert. Das Camp ist nach wie vor offen und es scheint momentan noch nicht klar zu sein, wo die Flüchtlinge von Vučjak und anderen Lagern in der Region untergebracht werden sollen. Trotzdem soll jegliche bisherige Unterstützung eingestellt werden, inklusive der Wasserversorgung. Klare Alternativlösungen wurden aber noch nicht präsentiert.
Ende Oktober kündete Šuhret Fazlić, der Bürgermeister von Bihać, an, dass er die Bereitstellung von Dienstleistungen seitens der Stadt einstellen wolle. Fazlić beklagte die fehlende Unterstützung von Seiten der Zentralregierung Bosniens. Die Kleinstadt sei bisher mit dem Problem, 6’000 Flüchtlinge zu beherbergen, weitgehend allein gelassen worden.
Auch der Menschenrechtskommissar des Europarates forderte die bosnische Regierung auf, die Krise menschenrechtskonform zu lösen und adäquate Unterkünfte für die gestrandeten Menschen bereitzustellen. Doch die Verantwortung für die nahende humanitäre Krise liegt nicht allein bei der bosnischen Regierung.
Die EU verschliesst die Augen
Das harte Durchgreifen der kroatischen Grenzpolizei hindert viele Flüchtlinge an der Weiterreise. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass Menschen, die bei der Grenzüberquerung erwischt werden, ohne Asylverfahren nach Bosnien zurückgeschickt werden – was gegen bestehendes EU-Recht verstösst. Ebenfalls wird von Asylsuchenden berichtet, dass sie von Grenzwachen verprügelt und ausgenommen werden, bevor man sie wieder nach Bosnien verfrachtet. Film und Fotomaterial verschiedener Hilfswerksorganisationen bestätigen, dass viele der Bewohner der Hilfszentren Verletzungen aufweisen.
Ein junger Mann erzählte gegenüber Vice News im vergangenen Juli, wie ihn die Grenzwachen dazu zwangen, einen Fluss zu durchqueren, um zurück nach Bosnien zu gelangen – obwohl er ihnen zu verstehen gegeben hatte, dass er nicht schwimmen konnte.
FRONTEX in der Kritik
Laut Amnesty International macht sich die EU zur Komplizin von Menschenrechtsverletzungen, wenn sie tatenlos dabei zusieht, wie ein Mitgliedstaat gewaltsam und rechtswidrig gegen Asylsuchende vorgeht. Ausserdem finanziere die EU mit dem Ausbau der europäischen Grenzschutzbehörde FRONTEX die kroatische Grenzpolizei mit. FRONTEX sorgte schon im Sommer für einen Skandal, als herauskam, dass die Behörde Menschenrechtsverletzungen durch nationale Grenzbeamte an den EU-Außengrenzen duldete und darüber hinaus bei Abschiebeflügen selbst immer wieder gegen Menschenrechtsstandards verstiess.
«Um zu verstehen, wo die Prioritäten der EU liegen, muss man nur dem Geld folgen», erklärt Massimo Moratti, Forschungsdirektor bei Amnesty International Europa. «Die finanzielle Unterstützung für humanitäre Hilfe ist mickrig im Vergleich zu den Beträgen, die die Regierungen für die Grenzsicherung bereitstellen. Diese beinhalten sowohl die Ausstattung wie auch die Gehälter der kroatischen Grenzpolizei.» Von den EU Steuergeldern wurden unter anderem Dronen und ein kleines Flugzeug zum patroullieren der Grenze angeschafft sowie Bewegungsmelder und Wärmebildkameras entlang den Flüchtlingsrouten installiert.
«Um zu verstehen https://phonelookupbase.com , wo die Prioritäten der EU liegen, muss man nur dem Geld folgen.»
Auch die Eidgenössische Zollverwaltung arbeitet eng mit FRONTEX zusammen und stellt der Behörde jährlich Personal zur Verfügung. Als Mitgliedstaat des Schengen-Abkommens hat die Schweiz auch einen Vertreter im Verwaltungsrat. Da die Schweiz also direkt an FRONTEX beteiligt ist, liegt der Vorwurf nahe, dass sie ebenfalls einen Teil der Verantwortung für die rechtswidrige und menschenunwürdige Behandlung von Flüchtlingen trägt.
In einer Stellungnahme gegenüber baba news lässt die Zollverwaltung mitteilen, dass die Schweiz sich «sowohl in bilateralen Dialogen als auch auf multilateraler Ebene» dafür einsetze, «dass ein effektiver Grenzschutz nicht zu Lasten der internationalen und europäischen Menschenrechtsnormen gehen darf.» Es seien bisher auch keine Mitarbeitenden der Zollverwaltung an der kroatisch-bosnischen Grenze im Einsatz gewesen.
Der erwähnte Einsatz der Schweiz scheint bisher keine Wirkung zu zeigen. Indem die Europäischen Staaten die Sicherung ihrer Grenzen über internationales Recht und ihre Verpflichtung zum Schutz von Menschenrechten stellen, verschliessen sie nicht nur die Augen vor der Brutalität der kroatischen Grenzwachen, sondern finanzieren deren Tätigkeiten mit. So tragen sie zur stetigen Verschlimmerung der humanitären Krise bei. Nun beginnt der harte Balkanwinter und selbst die letzten Stricke für humanitäre Hilfe sind im Begriff zu reissen. Mehrere tausend Menschen werden somit der Gefahr des Erfrierungstodes ausgeliefert.
Das Europäische Bürger*innen-Forum vertritt ebenfalls die Position, die Schweiz sei mitverantwortlich für die Menschenrechtsverletzungen, «weil sie das Grenzregime der EU als Mitglied von Schengen und FRONTEX unterstützt und keinerlei Initiative ergriffen hat, um Bosnien zu entlasten und den Geflüchteten zu helfen.» Am Mittwoch 27. November, findet dazu eine Protestaktion und Info-Veranstaltung in Bern statt.
Das Rote Kreuz ist weiterhin in Vučjak im Einsatz und setzt alles daran, die Menschen vor Ort so gut es geht zu versorgen. Doch die Möglichkeiten sind knapp und der Winter bricht ein. Falls du spenden willst — hier lang.