Seit November letzten Jahres protestieren in Serbien hunderttausende Menschen gegen Aleksandar Vučić und dessen Regierung. Auslöser der Proteste war das eingestürzte Dach eines Bahnhofs, das 15 Menschen tötete. Die Berichte zu den Protesten sind durchwegs positiv. Eine kritische Betrachtung wäre aber durchaus angebracht.
«Proteste in Serbien: Die serbische Jugend bringt Belgrad zum Beben» (Tagesanzeiger), «Proteste der Diaspora: Serbischer Frühling» (WOZ) oder «Volksaufstand als Volksfest» (Republik), gerade Schweizer Medien berichteten euphorisch über die Proteste in Serbien, die als Studierendenproteste begonnen hatten.
Ein Leitartikel der WOZ nennt den Freiheitskampf der «mutigen Serb*innen» in einem Atemzug mit dem der Ukrainer*innen oder der Kurd*innen in Rojava. Tatsächlich zieht sich der Protest inzwischen durch alle Gesellschaftsschichten und Altersklassen, aber er zieht auch Menschen an, die so gar nicht zu einem Jugendaufstand passen.
Ein Leitartikel der WOZ nennt den Freiheitskampf der «mutigen Serb*innen» in einem Atemzug mit dem der Ukrainer*innen oder der Kurd*innen in Rojava.
Bereits bei Protesten im Januar und Februar 2025 wurden gemäss Radio Free Europe Symbole mehrerer rechtsextremistischer Organisationen gesehen und zahlreiche serbische Fahnen mit dem Umriss des Kosovo und der Aufschrift «Nema Predaje» (auf Deutsch: Es gibt kein Aufgeben / es gibt keine Kapitulation) geschwenkt. Viele dieser Fahnen waren auch bei den Rekordprotesten vom 15. März 2025 zu sehen.
Der Slogan «Nema Predaje» lehnt an die Präambel der serbischen Verfassung an, wonach Kosovo ein integraler Bestandteil Serbiens ist. Weiter wurden an den Protesten einige Vertreter der rechtsextremen Vereinigung «Omladina 451» gesehen. «Omladina 451» lehnt eine Unabhängigkeit des Kosovo ab und will eine Abspaltung der Republika Srpska von Bosnien-Herzegowina.
Keine Distanzierung von Kriegsverbrechern
Auch die Veteranen der 63. Fallschirmbrigade sind seit Ende Januar regelmässig an Demonstrationen anwesend. Nach eigener Angabe sind sie keine politische Organisation, sondern nur anwesend, um die Sicherheit der jungen Protestierenden zu schützen. Die Einheit war in den Kriegen sowohl gegen Kosovo als auch gegen Kroatien und Slowenien beteiligt.
Insbesondere bedeutsam war ihre Beteiligung am Massaker von Meja, einem der schlimmsten Verbrechen während des Kosovokriegs. Am 27. April 1999 wurden in Meja, einem Dorf in der Nähe der Stadt Gjakova, mindestens 377 kosovo-albanische Jungen und Männer von ihren Familien getrennt und durch die serbische Armee hingerichtet. Die überlebenden Frauen und Kinder wurden vertrieben.
In den Schweizer Medien wurde die Beteiligung der Veteranen der 63. Fallschirmbrigade lediglich im Artikel der Republik diskutiert, zusammen mit der Rechtfertigung von Nataša Kandić, Gründerin des «Fonds für humanitäres Recht» in Belgrad, die in einem Radiobeitrag darauf hinwies, es lägen keine Beweise über eine Verantwortung der 63. Brigade für diese Kriegsverbrechen vor. Eine Distanzierung von den Veteranen durch die Studierendenbewegung blieb bisher aus.
Bei der Protestbewegung handelt es sich offenbar um einen Kampf für die eigene Unabhängigkeit von Vučić – aber gegen die Unabhängigkeit des Kosovo (…).
Ausserdem gab die «Tura do Strazburga» zu reden, eine Fahrradtour serbischer Studierender nach Strassburg, die am 15. April zu Ende ging, und die ihre Forderungen vor die europäischen Institutionen und eine europäische Öffentlichkeit bringen wollte.
In einem Instagrampost berichtete das Portal «Balkan Insight» über die Tour und zeigte bei einem Zwischenstop in Budapest einen Studierenden auf dem Velo – auf seinem Rücken gut erkennbar eine serbische «Nema Predaje»-Fahne, wieder mit dem Umriss des Kosovo. Bei der Protestbewegung handelt es sich offenbar um einen Kampf für die eigene Unabhängigkeit von Vučić – aber gegen die Unabhängigkeit des Kosovo, eine Unabhängigkeit die übrigens mehrheitlich von den EU-Staaten anerkannt wird.
Andere Teile von Vučićs Politik sind explizit von der Kritik ausgenommen, insbesondere seine Haltung betreffend Bosnien-Herzegowina und Kosovo.
Wenn man wie die Schweizer Medien euphorisch bleiben will, kann man diese Teile der Protestbewegung als Einzelfälle abtun. Aber im Grunde sind sie eine Folge der gesteckten Ziele der Proteste. Diese richten sich explizit nur gegen die fehlende Rechtsstaatlichkeit und die Korruption von Vučićs Regierung. Andere Teile von Vučićs Politik sind dagegen explizit von der Kritik ausgenommen, insbesondere seine Haltung betreffend Bosnien-Herzegowina und Kosovo.
Rechte Narrative und Nationalismus
Erst Anfang März hatte Vučić dem bosnischen Serbenführer Milorad Dodik seine Unterstützung zugesichert, nachdem dieser von einem Gericht in Sarajevo zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden war. Auch im Kosovo unterstützt er die serbische Minderheit im Norden und setzte in den letzten Jahren gar vermehrt Streitkräfte in Richtung Kosovo in Bewegung.
Unter Vučić wurden die Taten von verurteilten Kriegsverbrechern wie Ratko Mladić, Vladimir Lazarević oder Radovan Karadžić jahrelang heruntergespielt, inzwischen werden sie sogar offen gefeiert. Dass dieser Teil von Vučićs Politik nicht kritisiert wird, ist kein Zufall, im Gegenteil, seine Politik wird, zuvor aufgezeigt, sogar aktiv von einem Teil der Protestierenden unterstützt.
Für einen langfristigen Frieden in Serbien, aber auch in den Nachbarstaaten, ist es unabdingbar, dass eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit stattfinden kann. Aber die derzeitige Protestbewegung blendet diese im besten Fall aus und grenzt sich dabei nicht einmal von teilnehmenden Kriegsverbrechern und Rechtsextremen ab. All dies gilt es bei der Berichterstattung, auch hier in der Schweiz, zu berücksichtigen und zu adressieren.
Von Nico Zürcher