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«Wenn ich hier am Ohridsee bin, vermisse ich den Zürichsee – und umgekehrt»

Wie viele Menschen mit Migrationsgeschichte wuchs auch Arbnora Aliu mit zwei Heimatorten auf. Das habe eine schöne, aber auch eine traurige Seite. Wie schmerzhaft es sein kann, mit zwei Städten im Herzen zu leben, wurde unserer Kolumnistin aber erst bewusst, als sie erkannte, dass ihre Tochter das gleiche Schicksal teilt.

Disclaimer: Die Frage nach dem «Wo ist es besser: Hier oder dort?» wurde mir immer von Erwach­senen gestellt, wenn wir «dunne» in den Ferien waren. Mit «hier» wurde der Ort, an dem man die Sommer­ferien verbrachte (Prishtinë, Tetovë, Strugë, Gjakovë, Tiranë etc.) und mit «dort» wurde die Schweiz gemeint.

Als Kind mit einem sogenannten Migra­ti­ons­hin­ter­grund habe ich folgende Frage schon oft gehört: Wo ist es besser? Hier oder dort? Ich habe sie gehasst. Immer war ich überfordert und wusste nicht, ob es eine richtige Antwort gibt. Bis heute verstehe ich den Sinn der Frage nicht und inter­pre­tiere viel zu viel hinein. Sie löst bei mir grosse Emotionen über dieses «Hier» und «Dort» aus.

Ich schreibe diesen Text nicht von Zürich, sondern von meiner anderen Heimat, Strugë, aus. Eine kleine Stadt im Süden Nordma­ze­do­niens. Mein Herz schlägt für zwei Städte, daher habe ich auch zwei Orte, die ich Heimat nenne. Das Wort kann für jede Person etwas anderes bedeuten: ein geogra­phi­scher Ort, ein Geruch, ein Geschmack, eine Musik, eine Sprache, Menschen oder ein Gefühl.

Diesen Artikel hat Arbnora Aliu für Tsüri verfasst. Wie baba news braucht auch Tsüri Member, um sich finan­zieren zu können. Hier kannst du das Medium unterstützen. 

Meine beiden Heimatorte liegen zwar auf der Landkarte weit ausein­ander, haben aber etwas gemeinsam: Sie haben beide einen See. Meine Eltern sind Ende der 80er-Jahren von der Stadt am Ohridsee in die Stadt am Zürichsee gezogen. Sie erzählen noch heute, dass es  ein Heimat­gefühl in ihnen auslöste, wenn sie nach ihrer Arbeit mal Zeit hatten, am Zürichsee zu sitzen. Zuvor haben sie sich ein gebra­tenes Poulet, Mayon­naise und ein Brot gekauft. Das war damals ihr «Auswärts-Essen».

 

«Mir war nie bewusst, wie es sein wird, ein Kind zu haben, das nun auch so aufwächst. Mit zwei Heimatorten.»

Hier am Ohridsee stehe ich fast jeden Morgen früh auf, gehe spazieren und geniesse die Ruhe. Der See ist glasklar und gibt mir eine Energie, die mich den ganzen Tag begleitet. Wenn ich dann bei meinem Rundgang minde­stens fünf Mal jemanden grüsse, weil man sich hier einfach kennt, ist das Heimat für mich.

Wenn im Homeoffice das Mittag­essen bei meiner Gross­mutter auf mich wartet, meist tradi­tionell albani­sches Essen und sie mich minde­stens zehn Mal fragt, ob ich noch mehr essen will. Auch das ist Heimat. Wenn ich am Nachmittag im See baden gehe, mich immer wieder über die Abkühlung freue, und dankbar bin für das saubere und frische Wasser. Wenn ich abends in meine Lieblingsbar gehe, wo meist Live Musik gespielt wird, ich dann vergesse zu bezahlen, mir aber keine Sorgen mache, weil man sich kennt und vertraut und ich am nächsten Morgen vorbei gehe und bezahle. Das alles ist Heimat.

Wenn der Abschied doppelt schmerzt

Was aber auch Heimat ist, ist der Schmerz, den ich schon bei meiner Ankunft verspüre, wenn ich mich so sehr freue, hier zu sein, gleich­zeitig schon darüber nachdenke, wie ich mich fühlen werde, wenn ich wieder gehen muss. So sehr ich mich wieder auf Zürich freue, so sehr tut der Abschied von Strugë weh. Wenn ich hier am Ohridsee bin, vermisse ich den Zürichsee. Wenn ich am Zürichsee bin, vermisse ich den Ohridsee. Ein Dilemma, das ich nie lösen kann, mit dem ich aber gelernt habe zu leben. Praktisch jede Person mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund kennt dieses Gefühl.

Was mir aber nicht bewusst war, ist, dass dieser Schmerz eine ganz neue Dimension annimmt, sobald man Kinder hat. Ich kannte das Gefühl, Abschied zu nehmen von einem Heimatort, mir war aber nie bewusst, wie es sein wird, ein Kind zu haben, das nun auch so aufwächst. Mit zwei Heimatorten.

Letzten Sommer habe ich so sehr geweint. Aber nicht, weil ich meine geliebte Stadt Strugë verlassen musste, sondern weil ich gesehen habe, wie meine kleine Tochter von ihren Gross­eltern Abschied genommen hat. Da wurde mir das erste Mal bewusst, dass der Schmerz, der entsteht, wenn du mit und zwischen zwei Heimat­orten aufwächst, nur halb so schlimm ist, wie derjenige, den du verspürst, wenn du dein Kind siehst, wie es dasselbe erleben muss.

Mein Abschied von Strugë steht für mich nicht mehr im Vorder­grund, sondern wie es meinem Kind dabei ergehen wird; wie es damit umzugehen lernt. Ich erinnere mich plötzlich, wie schwierig es für mich war, ohne Gross­eltern in Zürich aufzu­wachsen. Sie nie bei einem Geburtstag dabei gehabt zu haben. Wir Feiertage nur dann zusammen verbringen konnten, wenn sie in die Schul­ferien fielen. Oder wie es sich anfühlt, nicht richtig Abschied nehmen zu können von Menschen, die man einst jeden Sommer sah, weil sie in der Zwischenzeit verstorben waren.

An all das denke ich, aber nicht in Bezug auf mich, sondern in Bezug auf mein Kind. Ich möchte ihm die Möglichkeit geben, ebenfalls zwei Heimatorte zu haben. Zwei Seen, die ihm das schöne Gefühl von zuhause geben. Aber gleich­zeitig will ich ihm den Schmerz ersparen, das Herz an zwei Orten zu haben.

Die kommenden Jahre werden mich lehren, mit dem Gefühl, zwei Heimatorte zu haben, umzugehen, ohne dass ich meinen Schmerz auf mein Kind übertrage. Was ich aber jetzt schon weiss: Ich werde nicht die Frage danach stellen, wo es besser ist. Statt­dessen werden wir gemeinsam versuchen, diese zwei Leben, zwei Heimatorte und zwei Seen zu verbinden. Hier und dort.

 

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