Was bedeutet es, «Albaner» zu sein? Was «Schweizer»? Und muss man sich für das eine oder andere entscheiden? Unser Autor hat sich Gedanken gemacht.
Die Schweizerin und die Albanerin, den Schweizer und den Albaner gibt es eigentlich nicht. Schweizer und Albaner ist derjenige, der sich selbst als solcher sieht. Im Grunde kann jeder Schweizer oder Albaner werden. Das ist kein gott- oder naturgegebener «Ausweis», den nur Auserwählte erhalten. Natürlich kommt die gesellschaftliche Komponente dazu – in Teilen der Schweizer und albanischen Gesellschaft werden nicht alle sich so bezeichnenden Menschen als Schweizer und Albaner akzeptiert.
Im Grunde kann jeder Schweizer oder Albaner werden.
In der Schweiz ist der Begriff viel offener, hier können sich Menschen mit einem anderen kulturellen, sprachlichen und religiösen Hintergrund eher als Schweizer bezeichnen. In den albanischen Gesellschaften, wie Albanien, Kosovo und Nordmazedonien, ist der Begriff enger gefasst. Dort wird eine kulturelle, sprachliche und zum Teil religiöse Assimilation von der Mehrheitsgesellschaft verlangt, um als «Albaner» durchzugehen. Deswegen würden nur die sehr wenigsten Albaner in Albanien behaupten, dass die Aromunen, Roma und Montenegriner, alles Minderheiten im Land, als Albaner im nationalen Sinne gelten.
Es ist also zentral, ob die Gesellschaft dich als Schweizer oder Albaner sieht, sonst ist es sehr schwierig, den Begriff für sich selbst in Anspruch zu nehmen.
Wieso gibt es aber den Schweizer und den Albaner nicht? Beziehungsweise: Wieso gibt es sie? Nachfolgend einige Gedanken zu diesen Fragen:
1.
Schweizer und Albaner sind Menschen. Der Mensch ist biologisch gesehen der Homo sapiens, der genetisch überall auf der Erde gleich ist.
2. Vom Aussehen her gibt es Schweizer und Albaner ebenfalls nicht. Es gibt zwar einzelne Eigenschaften, die bei den Schweizern oder bei den Albanern typischer sind. Doch es gibt auch blonde Albaner, schwarzhaarige Schweizer, nordisch aussehende Albaner, südländisch aussehende Schweizer und, um ein wenig Humor in die Sache zu bringen, grossköpfige Schweizer und kleinköpfige Albaner.
Klar: Einige Eigenschaften mögen bei der einen Nation stärker vertreten sein als bei der anderen, weswegen man viele Schweizer und Albaner voneinander unterscheiden kann. Doch Ausnahmen gibt es sehr viele – so wurde ich vom Aussehen her auch schon als Türke, Franzose oder Portugiese bezeichnet.
3. Sprachlich gesehen gibt es keine Schweizer, es gäbe in der Schweiz im Grunde genommen nur Deutsche, Franzosen, Italiener und Rätoromanen. Sprachlich gesehen gibt es aber Albaner, das ist wohl die wichtigste Eigenschaft, welche die Menschen albanischer Nation miteinander verbindet. Zwar kann nur etwa die Hälfte dieser Menschen die 1972 eingeführte vereinheitlichte Standardsprache und ‑schrift, doch das ist bloss ein Detail.
4. Kulturell gesehen gibt es ebenfalls keine Schweizer und keine Albaner. Beide Kulturen sind sehr vielfältig: Die Walliser sind für ihr Raclette berühmt, während die Bündner es früher nicht kannten. Die Solothurner feiern Chesslete; die Tessiner (so wie der Rest der Welt) haben keine Ahnung, was das ist. Die Tetovaren schenken ihren Bräuten kiloweise Gold zur Hochzeit, die Gjirokastriten kennen diese Tradition nicht. Die Sarandioten singen gern ihre polyphonen (mehrstimmigen) Lieder, die Pejaner würden hier nur die Stirn runzeln, und sich fragen, was das solle.
Einige Elemente verbinden sicher alle Schweizer und alle Albaner untereinander. Die Beispiele sollen jedoch aufzeigen, wie unterschiedlich die Menschen einer Nation voneinander sind. Die Nation ist letztendlich eine gewollte Illusion.
5. Religiös gesehen sind die Unterschiede noch frappanter. Während sich viele Nationen auf der Erde mit der Religion identifizieren, ist das bei Schweizern und Albanern nicht so. So haben sowohl die Schweiz wie auch die albanischen Gesellschaften eine lange christliche Tradition, letztere ausserdem eine lange islamische. Doch heute hat man kaum mehr Übersicht über die unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen. Schweizer sind heute vor allem Katholiken, Protestanten, Konfessionslose, Atheisten, Agnostiker, Muslime, Juden, Hindus, Buddhisten und vieles mehr. Die Albaner sind heute Sunniten, Bektaschiten, Katholiken, Orthodoxe, Atheisten, Protestanten und vieles mehr.
6. Kommen wir zur Nationalgeschichte. Die Schweizer Nation gibt es in unserem Verständnis erst seit 1848, vorher fühlten sich die Menschen in dieser Region eher ihrem Kanton zugehörig. Die Eidgenossenschaft gibt es zwar bereits seit 1291. Doch Eidgenosse war eher ein politischer als ein gesellschaftlicher Begriff. Sie implizierte den Bund zwischen den verschiedenen Kantonen, aber keine Nation.
Die Schweiz war vor der Industrialisierung ein armer Fleck auf der Karte Europas. Das Land verliessen bis in das industrielle Zeitalter sehr viele Menschen. Erst mit der wirtschaftlichen Entwicklung und Stabilisierung drehte sich der Spiess um. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg kamen sehr viele Menschengruppen aus anderen Ländern: aus Italien, der Türkei, Jugoslawien, Portugal, Spanien, Sri Lanka, Deutschland, dem Kosovo, Nordmazedonien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Äthiopien, Somalia und Eritrea. Die Schweiz hat sich stark verändert und ist heute ganz klar ein Einwanderungsland, vergleichbar mit Kanada, den USA, Australien, aber auch dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Deutschland. Wer ist also heute Schweizer und wer nicht? Jeder und niemand.
Die Schweiz war vor der Industrialisierung ein armer Fleck auf der Karte Europas.
Die Albaner gibt es in unserem Verständnis ebenfalls erst seit dem frühen 19. Jahrhundert. Wie die Schweizer und die albanische Nation sind im Zuge des Nationalismus auch viele andere Nationen entstanden. Die albanische «Rilindja»-Bewegung (albanisch für «Wiedergeburt») zu dieser Zeit versuchte, die Albaner von den osmanischen Zwängen zu befreien, denen sie über 500 Jahre unterworfen waren, und sie zu einem «Volk» zu vereinen. Das war eines der schwierigsten Unterfangen in der Geschichte der Albaner. Die grossen Verdienste waren die Vereinheitlichung der albanischen Schriftsprache und die Pflege und Weiterentwicklung der emotionalen Komponente durch Literatur und Mythologie (Nationalepos).
Zwar verbanden Dialekte, Traditionen, Volksgesetze, Küche, Musik und Tanz viele Albaner auch schon vorher, teilweise waren die Unterschiede aber riesig und standen der Entstehung einer gemeinsamen grossen Gruppe, die politisch agieren konnte, im Weg. Heute gibt es die Republik Albanien, die etwa die Hälfte aller Albaner weltweit in einem Staat vereint. Die Republik Kosovo ist ebenfalls ein kulturell und sprachlich albanisch dominierter Staat. Und in den Republiken Nordmazedonien, Montenegro und Serbien leben zum Teil grosse albanische Minderheiten. Wer ist also heute Albaner und wer nicht? Auch jeder und niemand. Was bleibt also übrig?
Was bleibt übrig?
Ich persönlich sehe mich zuallererst als Weltbürger. Die Menschheit ist schon lange aus dem Zeitalter des Nationalismus raus. Durch die Globalisierung begegnen sich Kulturen und Sprachen so schnell wie nie zuvor. Die Idee von Nationen ist überholt — wir brauchen sie nicht mehr. (Übrigens gibt es diese Idee auch in der christlichen, islamischen und buddhistischen Religion nicht. Richtige Christen, Muslime und Buddhisten sind Kosmopoliten.)
Wir haben grosse Flüchtlingsströme, wir haben Armut auf der Erde, wir haben ein Klima, das sich verändert, wir haben eine Überbevölkerung usw. Wie sollen wir diese riesigen Probleme als kleine Nationen lösen? Das geht nicht. Es ist zwingend, dass wir uns aus den Ketten der Nation (aber nicht aus der Sprache und Kultur!) befreien und die Menschen anderer Nationen als Schwestern und Brüder sehen, um gemeinsam eine bessere Zukunft für uns alle zu gestalten.
Wie sollen wir diese riesigen Probleme als kleine Nationen lösen? Das geht nicht.
Kulturell sehe ich mich sowohl als Albaner wie auch als Schweizer. Ich werde keine Grossfamilie anführen wie meine Vorfahren. Ich trage keine Waffe mehr an mir wie meine Vorfahren. Und ich denke nicht patriarchal-konservativ wie meine Vorfahren. Was bleibt also vom Albanischen übrig? Die wunderschöne albanische Sprache, die fantastische albanische Küche, viele schöne Traditionen (wie die Gastfreundschaft oder die Achtung vor älteren Menschen) und meine spannende Ahnengeschichte sowie die interessante Nationalgeschichte.
Bin ich aber immer noch Albaner? Ja, klar. Wieso bin ich dann aber auch Schweizer? Weil ich mich mit dem Schweizer Politiksystem identifizieren, ein gewisses Bedürfnis an Ordnung, Sicherheit und Höflichkeit habe, die Verfassung schätze und die farbige und fortschrittliche Gesellschaft liebe. Ich mag die Schweizer Küche und finde viele Traditionen toll.
Wie soll man sich denn in einer solchen Situation für «eine Seite» entscheiden?
Muss man sich überhaupt entscheiden?
Nein.
Man ist einfach beides.
Punkt.
Wie soll man das aber Schülerinnen und Schülern weitergeben? Das ist eine grosse Herausforderung für mich als Lehrperson. Hier kommen nämlich die Erwartungen der Eltern ihren Kindern gegenüber und die Erwartungen der Schule und Gesellschaft ins Spiel. Wahrscheinlich ist das ein Thema für den nächsten Artikel.
*Mit «Albaner» und «Schweizer» sind auch Albanerinnen und Schweizerinnen gemeint.
Sehr gut geschrieben! Sprichst vielen aus der Seele.
Merci. 🙂