In wenigen Tagen sind die Parlamentswahlen. Bis heute fehlen Menschen mit Migrationsgeschichte in der Politik. Das muss sich ändern, fordert Özge.
Die Plakate mit grossen Gesichtern, die Flyer im Briefkasten und unzählige Artikel lassen uns wissen: Am 22.Oktober wählen wir die Politiker*innen, die uns für die nächsten vier Jahre im National- und Ständerat vertreten werden.
Dabei muss ich oft an die SRF-Dokumentation «Migrantinnen und Migranten in der Schweizer Politik – Der Wille zum Mitgestalten» denken, die bereits 2015 ausgestrahlt wurde. Die Hauptaussage: Menschen mit einer Migrationsgeschichte werden zu wenig repräsentiert in der Schweizer Politik. Mir war das zwar bewusst, dennoch war ich überrascht, wie gross die Diskrepanz tatsächlich ist.
Der Webseite des Bundesamts für Statistik Schweiz (BFS) kann man entnehmen, dass 39 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung ab 15 Jahren einen Migrationsvordergrund, beziehungsweise, wie es die BFS noch nennt, «Migrationshintergrund» hat (Stand 2021). Das sind 2’890’000 Personen. Die Aufgabe des Parlaments ist es, die Bevölkerung zu vertreten. Dafür müsste man ähnliche Verhältnisse bezüglich Migrationsstatus also auch in der Politik finden. Die Realität in der Schweiz ist jedoch immer noch eine andere.
Das Parlament heute
Ein Blick auf die offizielle Seite des Schweizer Parlaments, parlament.ch, zeigt: Im Ständerat sitzen 46 Personen, davon sind null Personen im Ausland geboren. Bei fünf Personen ist eine weitere Nationalität aufgeführt, zusätzlich zur Schweizer Staatsbürgerschaft. Unter ihnen ist der SP-Politiker Daniel Jositsch, der kolumbianisch-schweizerischer Doppelbürger ist. Die restlichen vier sind italienisch-schweizerische Doppelbürger*innen.
Die Türkei, Serbien und Kosovo sucht man vergeblich, obwohl diese Länder ihren festen Platz in den Top 10 der Staatsangehörigkeiten der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz einnehmen (Quelle BFS).
Du denkst jetzt, das sei nur so, weil der Ständerat klein ist? Das verstehe ich, deshalb analysiere ich auch den Nationalrat, welcher 200 Sitze zählt.
Die Vielfalt und die Anzahl der Stimmen der Migrant*innen fehlen auch im Nationalrat.
Ich ermittle 22 Politiker*innen, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen. Das entspricht elf Prozent aller Sitze. Davon sind bis auf drei Personen alle in der Schweiz geboren. Italien ist wieder am stärksten vertreten, mit zehn Personen. Danach Frankreich mit vier, die Türkei mit drei, Deutschland mit zwei und je eine Person aus der Slowakei, Norwegen und Australien. Die Vielfalt und die Anzahl der Stimmen der Migrant*innen fehlen folglich auch im Nationalrat.
Mir ist bewusst, dass lediglich der Geburtsort oder die aktuelle Staatsangehörigkeit einer Person nicht unbedingt deren Migrationsgeschichte bestätigt, dennoch können diese Eckdaten gute Indizien dafür sein. Offizielle Zahlen dazu, wie viele Parlamentarier*innen eine Migrationsgeschichte haben, findet man keine.
In einem Beitrag spricht das SRF davon, dass man diese an zwei Händen abzählen könne. Der Blick analysierte neulich die Namen von Nationalratskandidierenden und kam zum Resultat, dass 2019 sechs Prozent der Gewählten einen ausländischen Namen, sprich Migrationsvordergrund, hatten. Die elf Prozent aus meiner Auswertung scheinen folglich im grosszügigen Rahmen zu liegen. Obwohl diese Analysen und Berichte nicht mit denselben Definitionen zu Menschen mit Migrationsgeschichte arbeiten wie das BFS, zeigen sie dennoch: der Anteil Parlamentarier*innen mit Migrationsgeschichte ist noch weit entfernt von den 39% Migrationsgeschichte in der Schweizer Bevölkerung.
«In einer gesunden Demokratie müssen alle Gesellschaftsteile mitmachen.»
Wer die Folgen trägt
Wieso ist die Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte im Parlament überhaupt wichtig?
Mustafa Atici, SP-Politiker und seit 2019 Nationalrat, sagte vor acht Jahren in der oben erwähnten SRF-Doku: «In einer gesunden Demokratie müssen alle Gesellschaftsteile mitmachen». Was wir heute haben, ist also demnach eine ungesunde Demokratie.
Die Mehrheit der Parlamentarier*innen wissen nicht aus erster Hand, wie Menschen mit Migrationsgeschichte überhaupt leben (müssen). Sie haben nicht die gleichen Erfahrungen gemacht, nicht die gleichen Hürden angetroffen und waren definitiv nicht den gleichen strukturellen Diskriminierungen ausgesetzt.
Die Mehrheit der Parlamentarier*innen wissen nicht aus erster Hand, wie Menschen mit Migrationsgeschichte überhaupt leben (müssen).
Sie wissen nicht, wie es ist, als Jugendliche stundenlang vor der Migros Zeit zu verbringen, weil das nun mal eine sehr günstige Freizeitoption ist. Dass unsere Eltern kein Geld hatten, um uns Hobbys zu finanzieren, und wir uns in vielen Räumen nicht willkommen gefühlt haben. Dass wir in der Schule schlechter behandelt und benotet wurden, ohne Grund – oder naja, der Grund war oftmals unser Name.
Wie es ist, dass unser Vater nicht zum Arzt ging, trotz Rückenschmerzen, und dass er heute deswegen kaum aufrecht stehen kann. Denn keine finanziellen Mittel für die Behandlung zu haben, ist das eine, aber wann sollte er denn in die Physiotherapie, bei Schichtarbeit und einer 50-Stunden-Woche? Wie es ist, dass wir uns zugehörig fühlen zum Land, in dem unsere Eltern geboren worden sind, zu ihrer Kultur und Tradition, aber dass uns das nicht weniger zu Schweizer*innen macht.
Wenn die Mehrheit des Parlaments all das und vieles mehr nicht richtig reflektiert, weil sie diese Erfahrungen nicht teilt, wie wollen sich diese Politiker*innen dann für dich und deine Familie einsetzen?
Stell dir vor, dass Parlamentarier*innen Fatime, Hasan, Milica, Mehmet, Tenzin, Ibrahim und Amara heissen.
Natürlich ist es nicht so, dass man sich automatisch für Migrationspolitik interessiert und die Zusammenhänge von Klassismus (Diskriminierung aufgrund sozio-ökonomischer Faktoren) und Rassismus (Diskriminierung aufgrund von u.a. Herkunft, Religion) versteht, nur weil man selbst Migrant oder Migrantin ist. Genau so, wie es durchaus Politiker*innen gibt, die sich beispielsweise anti-rassistisch einsetzen, ohne selbst direkt betroffen zu sein. Und Tatsache ist, dass wir Systeme wie Rassismus oftmals unbewusst internalisieren. Auf diese Weise erkläre ich mir etwa migrantische Politiker*innen, die systematische Diskriminierung weiterhin unterstützen, indem sie zum Beispiel der SVP angehören. Folglich ist neben dem Migrationsstatus auch die politische Einstellung ausschlaggebend.
Einen Vorteil gibt es aber: Es ist die Macht der Vorbilder.
Stell dir vor, es wäre normal, dass Parlamentarier*innen Fatime, Hasan, Milica, Mehmet, Tenzin, Ibrahim und Amara heissen. Den gleichen Namen tragen wie du oder deine Grosseltern. Das bringt Politik als Karriereoption näher an unsere und die nächste Generation, da wir und viele jüngere Menschen sich selbst im Parlament wiedererkennen können.
Nun liegt es an dir
Diese Veränderung hin zu einer gesunden Demokratie mit mehr migrantischen Stimmen beginnt mit dir. Du hast es in der Hand. Falls du abstimmen oder wählen kannst, dann ist das ein Privileg, das du nutzen solltest, wenn du mit deinen Ansichten im Parlament vertreten sein willst. Falls du wählen kannst, aber nicht vor hast, dieses Recht auszuüben, dann denke an die 25 Prozent der Bevölkerung, die heute (fast) keine Stimme im Parlament haben. Denn rund ¼ der in der Schweiz lebenden Menschen haben kein Stimm- und Wahlrecht, weil sie nicht eingebürgert sind.
Bist du unsicher, welche Partei du wählen möchtest, sind laut Blick auf der Liste der SP und der Grünen die meisten Kandidierenden mit einem nicht typisch schweizerischen Namen. Auf den Wahlunterlagen findest du die Information, wo du dein Couvert einwerfen kannst, auch wenn die Frist für die briefliche Wahl bereits abgelaufen ist.
Als muslimische, able-bodied, cis, hetero Frau habe ich mich in diesem Beitrag für den Fokus Migrationsgeschichte bei Politiker*innen entschieden. Am Schluss muss ich aber ehrlich sagen: Einen ähnlichen Beitrag hätte man auch zu Menschen mit Behinderungen oder aus der LGBTQIA+ Community schreiben können, denn sie sind ebenfalls vielerorts unterrepräsentiert. Das ist genau der Punkt, nicht nur im Parlament, sondern immer und überall: Es braucht die Stimmen von jenen Menschen, die bestimmte Erfahrungen selbst durchlebt haben.
ist in ihrem Umfeld bekannt für Polit-Diskussionen, obwohl sie lieber über Fussball und Single Malts sprechen würde. In ihren Texten will sie vermitteln: Wir sind nicht allein.
Jeder und jede der die kriterien erfüllt kann sich einbürgern lassen. Somit aktiv und passiert wahlberechtigt. Das ist ausreichend.